Belarus zwischen Aufbruch und Repression
Seit den Präsidentschaftswahlen Anfang August protestieren in Belarus Hunderttausende gegen die offensichtliche Fälschung der Wahl und die brutale Gewalt des Machtapparats. Swetlana Tichanowskaja, die bei den Wahlen gegen den seit 26 Jahren autoritär regierenden Amtsinhaber Alexander Lukaschenko angetreten war, wurde gezwungen, das Land zu verlassen. Aus dem Exil in Litauen hat sie einen Koordinationsrat initiiert, der dem Regime einen Dialog anbietet. Welche Ziele verfolgt der Koordinationsrat, wie kann der Weg zu Neuwahlen aussehen? Gibt es eine Chance auf einen Übergang zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Und welche Rolle kann Deutschland dabei spielen?
Begrüßung und Einführung
Gabriele FREITAG
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin
Marieluise BECK
Zentrum Liberale Moderne, Berlin
Podiumsgäste
Swetlana TICHANOWSKAJA
belarusische Oppositionsführerin, Minsk / z.Z. Vilnius
Nils SCHMID, MdB
außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Berlin
Moderation
Volker WEICHSEL
Redaktion Osteuropa, Berlin
Zugang zum Live-Stream erhalten Sie nach bestätigter Anmeldung. Online-Anmeldung ist am 5. Oktober, 12 Uhr beendet worden.
Die Veranstaltung entstand in Kooperation mit Zentrum Liberale Moderne.
Veranstaltungsprogramm
Veranstaltungsflyer (PDF, 460 kB)
Veranstaltungsbericht
Bericht: Henri Koblischke
Fotos: Dirk Enters
Nach den Präsidentschaftswahlen Anfang August 2021 protestierten in Belarus Hunderttausende gegen die offensichtliche Fälschung der Wahl und die brutale Gewalt des Machtapparats. Swetlana TICHANOWSKAJA, die bei den Wahlen gegen den seit 26 Jahren autoritär regierenden Amtsinhaber Alieksandr Lukaschenka angetreten war, wurde gezwungen, das Land zu verlassen. Aus dem Exil in Litauen hat sie einen Koordinationsrat initiiert, der dem Regime einen Dialog anbietet.
In ihrem Eingangsstatement verwies Tichanowskaja auf ein weiß-rot-weißes Stück der Berliner Mauer. So wie damals die Bürger*innen der DDR seien nun auch die Belarus*innen nach 26 Jahren Diktatur aufgewacht. Sie hob die wichtige Funktion der Frauen hervor, die nicht nur im Wahlkampf, sondern auch auf der Straße eine führende Rolle spielten. Da das Land nun ohne legitime Führung sei, spiele jede*r Einzelne eine führende Rolle, betonte sie. Tichanwoskaja klagte das Regime an: „Die ganze Gewalt geht nur von der Seite des Staates aus“. Dies sei aber ein Zeichen der Schwäche, historisch betrachtet habe friedlicher Protest vielerorts gewirkt. Das Ziel, so Tichanowskaja, seien nun faire Neuwahlen. „Wir möchten, dass unser Staat uns endlich erhört“, sagte sie und bekräftigte, dass die Belarus*innen nicht unter Lukaschenka weiterleben möchten. Vor diesem Hintergrund sprach sie den Protesten jeglichen geopolitischen Charakter ab. Sie forderte die Nachbarstaaten von Belarus und ganz Europa auf, als Vermittler den Dialog zu ermöglichen, den das Regime bisher verweigere. „Belarus ist ein Teil Europas“, sagte sie und warb um konkrete Unterstützung Deutschlands und der EU bei der Thematisierung von Polizeigewalt und -Folter gegenüber Regimegegner*innen sowie – im Falle eines Regimewechsels – für wirtschaftliche Unterstützung.
In der anschließenden Diskussion fragte der Osteuropa-Redakteur und Moderator Volker WEICHSEL, woher die Menschen nach zwei Monaten permanenter Mobilisierung noch die Kraft nähmen zu protestieren. Swetlana Tichanowskaja erläuterte, dass nunmehr jede*r jemanden kenne, der/die Opfer staatlicher Repressionen geworden sei, dass die Menschen dies dem Regime nicht verzeihen und nun „bis zum bitteren Ende“ kämpfen würden. In Bezug auf die Rolle des Nationalen Koordinierungsrats stellte sie klar, er sei „keine Exilregierung“, sondern bereite vielmehr die Zeit nach dem Machtwechsel vor. So beschäftige er sich beispielsweise mit Wirtschaftsfragen. Der Koordinierungsrat stelle sich auf eine langfristige Arbeit ein. Ein weiteres Ziel sei es, die Regierung zu einem Dialog mit dem Koordinierungsrat zu bewegen. Auf Nachfrage, ob die Freilassung der politischen Gefangenen eine Vorbedingung für den Dialog mit dem Regime sei, ließ Swetlana Tichanowskaja erkennen, dass sie in diesem Punkt entgegen ihrer ursprünglichen Forderungen verhandlungsbereit sei.
Ein weiterer Themenblock waren die Rollen Deutschlands und der EU. Swetlana Tichanowskaja dankte Deutschland für seinen Einsatz für die Sanktionen. Im Bereich der kurzfristigen Hilfe forderte sie darüber hinaus eine erweiterte Sanktionsliste, die Anerkennung des Koordinierungsrats als Dialogpartner und vor allem humanitäre Hilfe für die betroffenen Belarus*innen. Zentrale Bestandteile ihrer Forderungen waren Visaerleichterungen, Hilfsprogramme für Studierende und die Unterstützung Oppositioneller bei Gerichtsprozessen. Deutschland solle dem Beispiel Polens und Litauens folgen. Um einen Dialog mit dem Regime herzustellen, sollten Deutschland oder andere europäische Staaten Vermittlerrollen übernehmen. Für den Fall des Machtwechsels warb Tichanowskaja zudem dafür, Belarus wirtschaftlich zu unterstützen.
Hinsichtlich der EU-Sanktionen betonte Nils Schmid, dass diese das Regime „in der Spitze und der Breite“ treffen sollten. Ziel sei es, die Unterstützer des Regimes dazu zu bringen den Kurs der Gewalt zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund schloss er nicht aus, weitere Personen auf die Sanktionsliste zu setzen. Die Sanktionen sollten konkrete Fortschritte bringen, zum Beispiel Lukaschenka dazu bewegen, politische Gefangene freizulassen. Nils Schmid machte sich zudem dafür stark, nach dem Vorbild Polens und Litauens das Visaregime zu lockern, Stipendien für politische Flüchtlinge bereitzustellen und unabhängige Medienberichterstattung in Belarus zu gewährleisten. Deutschland und die EU befänden sich aber in einem Dilemma, denn jede konkrete Unterstützung gefährde auch Personen und setzte sie dem Risiko weiterer Repressalien aus. „Wir brauchen einen direkten Draht nach Minsk“ formulierte er ein weiteres Ziel der deutschen Außenpolitik. Bisher verweigere das Regime aber jeglichen Kontakt. Es gelte, Lukaschenka aus der Festung zu holen. Schmid griff zudem Tichanwoskajas Forderung nach wirtschaftlicher Unterstützung auf. „Wir müssen Belarus ein großzügiges Angebot machen“, sagte Schmid und nannte die Energiepolitik als ein denkbares Kooperationsgebiet, um den Energiemix des Landes zu diversifizieren.
Zur Rolle Russlands bemerkte Schmid: „Die Geopolitisierung des inneren Konflikts machen wir nicht“. Man habe den Kreml vor einem Eingreifen von außen gewarnt, betonte er. Dies liege auch im Interesse Russlands, denn dadurch entstünde die Gefahr, Belarus wie andere postsowjetische Staaten „zu verlieren“. Der häufig formulierten These, der Schlüssel zur Lösung des Konflikts liege in Moskau, widersprach Swetlana Tichanowskaja entschieden. „Der Schlüssel zur Lösung der Krise liegt in Belarus“, sagte sie. Kein Nachbar habe das Recht, sich einzumischen, nur die Belarus*innen selbst könnten eine Lösung finden. Somit richtete sich zum Abschluss der Diskussion der Fokus wieder auf Belarus. Swetlana Tichanowskaja konstatierte, eine Elitenspaltung gebe es noch nicht. Sie sehe aber erste Risse im Mittelbau der Beamtenschaft und vor allem in den Streitkräften. Entscheidend sei der Faktor Zeit, um das Regime ausreichend zu schwächen.