Der Krieg um Bergkarabach

The war over Nagorno-Karabakh

Fast sieben Wochen befanden sich Armenien und Aserbaidschan im Krieg um die Region Bergkarabach. Sollte die neu ausgehandelte Waffenruhe scheitern, so ist die Eroberung der gesamten Region durch Aserbaidschan nicht ausgeschlossen. Mindestens 90.000 Armenier*innen sind bereits aus Bergkarabach und den angrenzenden, bisher armenisch besetzten Gebieten geflohen. Gleichzeitig warten mehr als 600.000 Aserbaidschaner*innen, die vor 30 Jahren aus Bergkarabach geflohen sind, auf ihre Rückkehr. Welche Optionen gibt es für die Zukunft Bergkarabachs und seinen Bewohner*innen? Und wer erhebt Anspruch auf Mitsprache in den Aushandlungsprozessen?

For nearly seven weeks Armenians and Azerbaijanis have been at war for the region of Nagorno-Karabakh. Should the anew negotiated ceasefire fail, the conquest of the entire region by Azerbaijan cannot be ruled out. At least 90,000 Armenians have already fled Nagorno-Karabakh and the neighboring areas previously occupied by Armenians. At the same time, more than 600,000 Azerbaijanis who fled Nagorno-Karabakh 30 years ago are waiting for their return. What options are there for the future of Nagorno Karabakh and its inhabitants? And who claims to have a say in the negotiation processes?

Podiumsgäste / Diskussants
Aser BABAJEV
ADA University Baku / z. Z. (currently) Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (Peace Research Institute) Frankfurt/Main

Günther BÄCHLER
ehem. Sonderbeauftragter der OSZE für den Südkaukasus / former OSCE Special Representative on the South Caucasus

Richard GIRAGOSIAN
Regional Studies Center, Yerevan

Moderation
Gabriele FREITAG
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde / German Association for East European Studies, Berlin

Veranstaltungsprogramm

Einladung in Deutsch (PDF, 435 kB)

Einladung in Englisch (PDF, 434 kB)


Veranstaltungsbericht

Bericht: Henri Koblischke

Nach knapp sieben Wochen Krieg um Bergkarabach und Tausenden Toten und Vertriebenen vereinbarten Armenien und Aserbaidschan unter Vermittlung Russlands am 9. November 2020 einen Waffenstillstand, der von russischen Friedenstruppen überwacht wird. Armenien muss die seit Anfang der neunziger Jahre besetzten aserbaidschanischen Gebiete zurückgegeben, Teile Bergkarabachs sind nun unter Kontrolle Aserbaidschans.

Der ehemalige OSZE-Diplomat Günther BÄCHLER begrüßte den Waffenstillstand als überfällig. Bächler verurteilte den Krieg als „illegal“ und „unnötig“ und verwies auf bestehende Vereinbarungen zur Konfliktlösung wie die Minsk-Gruppe der OSZE unter dem Vorsitz Frankreichs, Russlands und der USA. Obwohl das Sterben nun ende, gebe es aber immer noch viele offene Fragen, beispielsweise die Modalitäten der Rückkehr von Flüchtlingen und ihr Schutz oder der Status Bergkarabachs. Bei diesen altbekannten Fragen sei kein Fortschritt zu verzeichnen.

Dieser Sichtweise schloss sich Richard GIRAGOSIAN vom Regional Studies Center in Jerewan an. Das Abkommen führe zu „mehr offenen Fragen als es Antworten gibt“. Seiner Auffassung nach könne man nicht von russischen Friedenstruppen sprechen, da diese, wenn einmal stationiert, nicht mehr gehen würden. Dies erhöhe den Einfluss Russlands auf beide Konfliktparteien. Inwiefern die kleine Zahl der russischen Soldaten menschliche Sicherheit garantiere, sei offen. Für weitere Verhandlungen forderte Giragosian eine Rückkehr zum Minsk-Format; der Friedensprozess dürfe kein unilaterales Bestreben Russlands bleiben. Die armenische Demokratie sei infolge des unvorteilhaften Waffenstillstandsabkommens nun gefährdet. Dies liege im Interesse Russlands, das keine Demokratien in seiner Nachbarschaft haben wolle. Viele Armenier seien enttäuscht vom „ohrenbetäubenden Schweigen“ und der mangelnden Unterstützung der jungen Demokratie durch die internationale Gemeinschaft und vor allem die EU. Nichtsdestotrotz zeigte er sich optimistisch mit Blick auf die weitere Demokratisierung: Autokratie und Korruption wie in Aserbaidschan seien keine attraktiven Modelle für Armenien.

Der aserbaidschanische Konfliktforscher Aser BABAJEV von der ADA University in Baku bezeichnete die Stationierung der russischen Friedenstruppen als die strategisch wichtigste Entwicklung des Waffenstillstands. Diese hinterließe aber in Aserbaidschan nach dem militärischen Sieg einen „bitteren Nachgeschmack“. Nichtsdestotrotz sah er das Waffenstillstandsabkommen als Sieg für Aserbaidschan, das seine verlorenen Gebiete zurückerlangt habe, was entscheidend für die Rückkehr von aserbaidschanischen Flüchtlingen sei. Allerdings stimmte er Bächler und Giragosian zu, dass das Waffenstillstandsabkommen kein Friedensabkommen sei und der Status Bergkarabachs nach wie vor ungeklärt bleibe.

Bächler verwies darauf, dass die Stationierung von Friedenstruppen während der Verhandlungen im Rahmen der Minsk-Gruppe immer nur als Teil eines Friedensabkommens diskutiert wurde. Nun gebe es „sogenannte Friedenstruppen“, aber kein Friedensabkommen. Als Vorbedingung für die Klärung des endgültigen Status Bergkarabachs müsse das Waffenstillstandsabkommen klar ausbuchstabiert werden. Beispielsweise müsse geklärt werden, welche Flüchtlinge zurückkehren könnten und wie gegebenenfalls eine friedliche Koexistenz durch Versöhnungsmechanismen sichergestellt werden könne. Hinsichtlich der Rückkehr der Flüchtlinge kommentierte Giragosian: „Ich bin froh, dass ich kein Diplomat bin“, denn eine tragfähige Lösung zu erarbeiten sei schwierig. Allerdings, betonte er, das Recht auf Rückkehr sei wichtiger als die eigentliche Rückkehr und Fortschritte könnten zur Vertrauensbildung auf beiden Seiten beitragen.

Bächler warf Russland vor, die OSZE „absichtlich geschwächt“ zu haben, indem sie in die Waffenstillstandsverhandlungen nicht einbezogen wurde. Nichtsdestotrotz könne die Minsk-Gruppe vermitteln, um eine Lösung bezüglich des Status der Region herbeizuführen. Kurzfristig forderte er die Organisation einer Geldgeberkonferenz für den Wiederaufbau Bergkarabachs. Babajev hielt dem entgegen die Minsk-Gruppe sei „bereits tot“ und die Lösung des Konflikts hänge nun von der Verständigung Russlands und der Türkei ab. Während auch Giragosian die Bedeutung der Türkei unterstrich, zeigte sich Bächler skeptisch. Russland sei durch seine Friedenstruppen der maßgebliche Akteur, nicht die Türkei.

Im Hinblick auf den Übergang von einem Waffenstillstand zu einer nachhaltigen Konfliktlösung entspannte sich eine Kontroverse zwischen zwei unterschiedlichen Lagern der Konfliktforschung. Giragosian vertrat die These des „demokratischen Friedens“. Demokratien wie Armenien seien besser geeignet, die Narrative der Feindschaft zu überwinden und Friedensprozesse durch persönliche Kontakte auf gesellschaftlicher Ebene zu ermöglichen. Das autokratische Regime Aserbaidschans sei „das fehlende Puzzlestück“ auf dem Weg zum Frieden. Babajev widersprach dem und nannte die Verknüpfung von Konfliktlösung und Regimetyp eine „falsche Diskussion“. Es sei eine „Illusion“, dass ein demokratisches Aserbaidschan eine friedlichere Außenpolitik führen würde. Seine Analyse beruht auf der Annahme, dass ein starker Führer den Nationalismus kontrolliert, wohingegen Demokratien wie Armenien vom Nationalismus der eigenen Bevölkerung getrieben werden. Es ist lohnenswert, diese gegensätzlichen Thesen weiter zu erkunden.

Datum:
17.11.2020, 18:00 Uhr bis 19:00 Uhr

Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.

Sprache(n):
Englisch

Programm:

Einladung in Deutsch (PDF, 435 kB)

Einladung in Englisch (PDF, 434 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde