Durch die Wahlen vom 9. August ist die Republik Belarus in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gerückt. Wurde das Land zuvor als „weißer Fleck“ oder „letzte Diktatur Europas“ gehandelt, so fragen heute alle nach seiner nationalen Identität und der Bedeutung der weiß-rot-weißen Fahne. Mitglieder der im Januar 2020 gegründeten Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission erörtern die historischen Bedeutungen des Begriffs Belarus. Welche Rolle spielte die historische Landschaft in der polnisch-litauischen Union und welche im russischen und sowjetischen Imperium? Wie wird in Belarus die Geschichte eines Staates erzählt, der 1918 als Volksrepublik und 1919 als Sowjetrepublik ausgerufen wurde, aber erst 1991 seine Unabhängigkeit erlangte?
Es diskutieren:
Felix ACKERMANN, Deutsches Historisches Institut Warschau
Thomas BOHN, Justus-Liebig-Universität Gießen
Diana SIEBERT, Köln
Moderation:
Anke HILBRENNER, Georg-August-Universität Göttingen
Die Podiumsdiskussion findet statt im Rahmen der Veranstaltungsreihe Revolution in Belarus (für weitere Details s. Flyer)
Lesen Sie mehr im Fokus Belarus der Zeitschrift Osteuropa:
https://www.zeitschrift-osteuropa.de/blog/themenschwerpunkt/fokus-belarus
200901_belaru… (PDF, 461 kB)
Bericht: Henri Koblischke
Durch die Präsidentschaftswahlen und die nachfolgenden Proteste ist die Republik Belarus in die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Wurde das Land zuvor nur als „weißer Fleck“ oder lediglich als „letzte Diktatur Europas“ gehandelt, so fragen heute alle nach seiner nationalen Identität und der Bedeutung der weiß-rot-weißen Fahne, die bei den Protesten sehr präsent ist. Mitglieder der im Januar 2020 gegründeten Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission erörterten die historische Bedeutung des Begriffs Belarus. Welche Rolle spielte die historische Landschaft in der polnisch-litauischen Union und welche im russischen und sowjetischen Imperium? Wie wird in Belarus die Geschichte eines Staates erzählt, der 1918 als Volksrepublik und 1919 als Sowjetrepublik ausgerufen wurde, aber erst 1991 seine Unabhängigkeit erlangte?
Belarus sei historisch gesehen, erläuterte Thomas BOHN, einerseits die historische Landschaft der ruthenischen Gebiete im Großfürstentum Litauen, und andererseits die transnationale „Lebenswelt belarusischer Bauern, jüdischer Händler, polnischer Gutsbesitzer und russischer Beamter“. Die belarusische Sprache sei im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorurteilen kein Kunstprodukt, so Diana SIEBERT, sondern die Standardsprache der Bauern gewesen. Allerdings habe die Herausbildung des „Hochbelarusischen“ im 20. Jahrhundert viele lokale Dialekte verdrängt. Das Belarusische sei dann wiederum der Russifizierung in der Sowjetunion zum Opfer gefallen.
In Deutschland gibt es zudem den Begriff Weißruthenien, der ein begriffliches Produkt deutscher kolonialer Projektionen war, so Felix ACKERMANN. Das Deutsche Reich unterstützte 1918 die Nationalstaatsgründung. Der Begriff Weißruthenien wurde auch während der deutschen Besatzung von Belarus im Zweiten Weltkrieg verwendet. Im ausgehenden Zarenreich wurde die weiß-rot-weiße Flagge zum Symbol der angestrebten belarusischen Staatlichkeit. In der Sowjetunion wurde die Flagge dann allerdings in einen engen Zusammenhang mit dem Faschismus gestellt. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurde weiß-rot-weiß für die neue Oppositionsbewegung zu einem Symbol für demokratischen Wandel. Ackermann wies darauf hin, dass die weiß-rot-weiße und die rot-grüne Flagge für zwei unterschiedliche Staatlichkeitstraditionen stehen. Die erste bezieht sich auf die vorsowjetischen Bestrebungen nach einem unabhängigen Staat, wohingegen die zweite die Flagge der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik darstellt.
Den Rückgriff auf die weiß-rot-weiße Flagge als „faschistisch“ zu bezeichnen ist laut Ackermann zu einseitig. Zwar hätten gewisse weißruthenische Gruppen im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert. Diese ausschließliche Geschichtsinterpretation ignoriere aber, dass die Flagge auch eine demokratische Tradition hatte und bis heute eng mit der staatlichen Unabhängigkeit von 1991 verbunden sei. Als problematisch bezeichnete Ackerman den Versuch beider Seiten, der Regierung ebenso wie der Protestierenden, sich gegenseitig mit dem Vorwurf des Faschismus zu diskreditieren. Das Regime erkläre die weiß-rot-weiße Flagge als faschistisch, wohingegen die Protestierenden die Polizei als Faschisten und die belarusischen Gefängnisse als Auschwitz bezeichnen.
In Belarus konkurrieren heute vor allem zwei Geschichtsnarrative. Das offizielle Geschichtsbild sei sehr auf die Staatlichkeit ausgerichtet, auch um sich gegenüber Russland abzugrenzen, so Bohn. Zentral seien drei Mythen: Die Ursprungsmythe, dass das Fürstentum Polozk der Beginn der belarusischen Staatlichkeit darstelle, die Mythe des goldenen Zeitalters im Fürstentum Litauen mit einer Blüte belarusischer Kultur sowie die Mythe des antifaschistischen Partisanenkampfs. Für die Protestierenden dagegen stehe weniger die Staatlichkeit im Vordergrund als das Erleben nationaler Zusammengehörigkeit. Die Proteste infolge der Präsidentschaftswahlen führten zu einem bisher nie dagewesenen Wir-Gefühl als belarusisches Volk, bemerkte Siebert.
Datum:
01.09.2020, 18:00 Uhr bis 19:00 Uhr
Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.
Sprache(n):
Deutsch
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Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde