Revolution in Belarus

Gesellschaft im Aufbruch

Die Gesellschaft in Belarus ist im Aufbruch. Die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen bilden den Kulminationspunkt einer gesellschaftlichen Mobilisierung, die spätestens seit der Corona-Krise sichtbar ist. Diese ergreift nicht nur junge urbane Menschen. Der Protest ist schichten-, regionen- und generationenübergreifend. Dies legt nahe, dass Belarus in den letzten zwei Jahrzehnten tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklungen durchgemacht hat. Wie hat sich die Gesellschaft verändert? Wie wirken sich diese Änderungen auf Genderrollen und Geschlechterbeziehungen aus? Welche Rolle spielen sozio-ökonomische Fragen in den aktuellen Protesten? Und welche Zukunftsvisionen für ein neues Belarus gibt es?

Es diskutieren:
Astrid SAHM, Internationales Bildungs- und Begegnungswerk, Dortmund/Berlin
Olga SHPARAGA, European College of Libearl Arts, Minsk

Moderation:
Gabriele FREITAG, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin

Die Podiumsdiskussion findet statt im Rahmen der Veranstaltungsreihe Revolution in Belarus. 

Veranstaltungsprogramm

2020_belarus_… (PDF, 265 kB)


Veranstaltungsbericht

Bericht: Edith Spielhagen

Die umstrittene Präsidentschaftswahl in Belarus vom 9. August 2020 wurde bereits im Vorfeld von landesweiten Protesten begleitet. Nachdem sich Amtsinhaber Alieksandr Lukaschenka mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Wahlsieger erklären ließ, nahmen Massenstreiks und Proteste gegen Wahlmanipulationen zu. Der Präsident und seine Sicherheitsorgane reagierten mit brutaler Gewalt. Etwa 7.000 Menschen wurden festgenommen, hunderte verletzt, fünf getötet. Swetlana Tichanowskaja, die nach offizieller Lesart unterlegene Kandidatin mit den meisten Gegenstimmen, floh ins benachbarte Ausland. Auch sie erklärte, die Wahl gewonnen zu haben. Inzwischen hat eine breite Anti-Lukaschenka-Stimmung das ganze Land erfasst. Selbst auf Pro-Lukaschenka-Demonstrationen werden Wahlfälschungen angesprochen und Mitglieder von Wahlkommissionen haben sich geweigert, Wahlprotokolle mit ihrer Unterschrift anzuerkennen.

Vor diesem Hintergrund widmet sich eine mehrteilige digitale Veranstaltungsreihe der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) der Revolution in Belarus. Zum Auftakt diskutierte Gabriele FREITAG (DGO) mit Olga SHPARAGA vom European College of Liberal Arts in Minsk und Astrid SAHM vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund über die tiefgreifenden gesellschaftlichen Entwicklungen in den beiden letzten Jahrzehnten, über veränderte Genderrollen und Geschlechterbeziehungen, sozio-ökonomische Fragen sowie Zukunftsszenarien.

Olga Shparaga erläuterte eingangs die von ihr verwendeten Begriffe „demokratische Revolution“ und „postnationale Revolution“. Die Menschen in Belarus wollen eine andere politische Ordnung, in der Rechtsstaatlichkeit und freie Wahlen garantiert sind. Bezüge zu kulturellen Werten und zur eigenen Geschichte stünden eher im Hintergrund, wären aber eine wichtige Basis für eine nationale Revolution. Die aktuelle Rolle der Frauen, die demonstrierend ihre Männer schützen wollen, passe nicht zum traditionellen Begriff der Nation. Hier widersprach Astrid Sahm. Mit Bezug auf den Nationaldichter Janka Kupala (1882 -1942) sei durchaus auch ein Prozess politischer Nationsbildung erkennbar.

Olga Shparaga hob die über Jahre gewachsene Rolle der NGOs hervor. Eine Entwicklung hin zu starker inhaltlicher Diversifizierung, steigenden Vernetzung und Regionalisierung sei zu sehen Dies verbinde sich mit einem neuen politischen Denken, aus dem sich u.a. die aktuelle politische Mobilisierung herleite. Die Kluft zwischen der in alten Schemata verharrenden Regierung und den kreativen Aktionen der Zivilgesellschaft wachse weiter.

Astrid Sahm machte deutlich, dass nach der Auflösung der Sowjetunion Belarus 1994 das letzte unabhängig gewordene Land war, in dem Wahlen stattfanden und dass es bis heute keine erfolgreichen Erfahrungen mit der Gestaltung eines gesellschaftlichen Wandels gegeben habe. Im Kontext des hilflosen Umgangs der Behörden mit der Covid-19-Pandemie verstünden sich die Menschen als Bürger, die es ablehnen, dass der Staat weiter über sie verfügt. Die Gesellschaft sehe sich unabhängig vom Staat und wolle ihr Leben selbst gestalten.

Kennzeichnend für den Wahlkampf wie für die nachfolgende Protestbewegung seit dem 9. August ist das „weibliche Gesicht“ der gesellschaftlichen Bewegung. Olga Shparaga sprach von einer „Evalution“. Das Gemälde „Eva“ des französischen Malers weißrussisch-jüdischer Herkunft Chaim Soutine (1893 – 1943) wurde zum Sinnbild kreativer, gewaltfreier, solidarischer und von der Gesellschaft anerkannter Proteste gegen Lukaschenka. Ob es zu einem nachhaltigen Wandel des Frauenbildes in Gesellschaft und Politik komme, bleibe aber offen. Astrid Sahm mahnte hier zu Vorsicht. Die klassischen Stereotypen seien nicht nur bei Alieksandr Lukaschenka verankert, sondern nach wie vor auch in der Gesellschaft. Sie wies darauf hin, dass die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja selbst u.a. öffentlich gesagt habe, am liebsten wieder ihre Familie „bekochen“ zu wollen.

Eine Zukunftsperspektive für Belarus sieht Olga Shparaga in der Überwindung der aktuellen Krise in Gesellschaft und Wirtschaft durch einen reformierten sozialen Staat ohne Trennung von politischen und sozialen Rechten. Neoliberale Reformen seien keine Lösung. Junge Menschen würden aus Mangel an Entwicklungsmöglichkeiten das Land verlassen. In den Protesten spielten sie eine wichtige Rolle. Dank ihrer technischen Kompetenzen wurden viele Vorgänge während der Wahl und danach dokumentiert und weiter verbreitet. Dieses know-how ist auch ein wichtiges wirtschaftliches Kapital für Belarus.

Nach Astrid Sahm sind für die weitere Entwicklung unterschiedliche Szenarien denkbar. Wenn der Staat keine vertrauensbildenden Maßnahmen vorsähe, würde es schwierig. Ein pragmatisches Vorgehen, wie es z.B. im Bereich der Inklusion in der Vergangenheit praktiziert wurde, wäre zwar weiterhin möglich, aber eine erfolgreiche gesellschaftliche Entwicklung ließe sich so nicht gestalten.

Datum:
27.08.2020, 18:00 Uhr

Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

2020_belarus_… (PDF, 265 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde