20 Jahre EU-Erweiterung

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Erweiterungsprozesses

Am 1. Mai 2004 traten zehn Länder der Europäischen Union bei. Aus einer Union der 15 wurden 25, dann 27 und später 28 Mitgliedstaaten. Die Erweiterung der EU hat geholfen, historische Spaltungen zu überwinden und ihren Mitgliedern ein nie dagewesenes Niveau an Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert. Die Neumitglieder haben sich aber sehr unterschiedlich entwickelt: Während mit Ungarn und zeitweise auch Polen zwei „frontrunner“ der Erweiterung große demokratische Rückschritte zu verzeichnen hatten, entwickelte sich das zunächst als nicht beitrittsreif bewertete Rumänien wirtschaftlich äußert dynamisch und politisch weitgehend stabil. Die Erweiterung der EU ist damit aber nicht abgeschlossen: Während der Beitrittsprozess der Westbalkan-Staaten seit vielen Jahren stagniert, sind mit der Ukraine, Moldau und Georgien drei weitere Staaten erst kürzlich in die Runde der Beitrittskandidaten aufgenommen worden.

Anlässlich des 20. Jahrestags der EU-Erweiterung von 2004 diskutieren wir die Vergangenheit und Gegenwart der EU-Erweiterung: Warum war der Erweiterungsprozess damals offenbar wirkmächtiger als heute? War er schlussendlich auch nachhaltig? Was erklärt die verschiedenen Pfade, welche die neuen Mitgliedstaaten genommen haben? Was sagt uns das für die aktuelle Erweiterungsrunde? Wie kann der Erweiterungsprozess vor dem Hintergrund der neuen geopolitischen Lage wieder dynamisiert werden? Und wie gut lassen sich die neuen Kandidatenstaaten Ukraine, Moldau und Georgien in den Prozess integrieren?

Einführung:

Thomas Hacker MdB, Vizepräsident der Südosteuropa-Gesellschaft / Europapolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Berlin
Gabriele Freitag, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin

Auf dem Podium diskutieren:

Nikola Dimitrov, Diplomat und Think Tanker, ehem. Stellvertr. Premierminister und ehem. Außenminister der Republik Nordmazedonien, Skopje
Alina Mungiu-Pippidi, Professorin für Comparative Public Policy an der Luiss Guido Carli Universität, Rom
Viktoriia Melnyk, Head of International Relation and European Integration, Centre of Policy and Legal Reform, Kiew
Wojciech Przybylski, Editor-in-chief, Visegrad Insight und Präsident der Res Publica Foundation

Moderation: Christian Hagemann, Geschäftsführer der Südosteuropa-Gesellschaft, München


Veranstaltungsbericht

Bericht: Sebastian Lambertz

In diesem Jahr jährt sich die EU-Erweiterung von 2004 zum 20. Mal. Zehn Länder traten am 1. Mai 2004 traten der Europäischen Union bei. Aus einer Union der 15 wurden 25, dann 27 und später 28 Mitgliedstaaten. Die Erweiterung der EU hat geholfen, historische Spaltungen zu überwinden und ihren Mitgliedern ein nie dagewesenes Niveau an Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert. Doch war dieser Prozess schlussendlich auch nachhaltig? Was erklärt die verschiedenen Pfade, welche die neuen Mitgliedstaaten genommen haben? Und was können wir aus diesem Prozess für die Integration weiterer Staaten wie die Ukraine, Moldau oder Georgien lernen? Diese und weitere Fragen haben wir in einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Südosteuropa-Gesellschaft im Deutschen Bundestag ausführlich diskutiert.

Zum Einstieg verwies Thomas HACKER MdB, Vizepräsident der SOG und europapolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion auf die lange und ereignisreiche Geschichte der Europäischen Union vom Zweiten Weltkrieg bis zu den Erweiterungsprozessen der Gegenwart. Europa stehe heute einmal mehr unter Druck und es sei wichtig, für ein starkes Europa einzutreten. DGO-Geschäftsführerin Gabriele Freitag verwies auf die Perspektive der beigetretenen Staaten und die „großen Erwartungen“ mit denen diese in EU gekommen seien.

20 JAHRE EU-ERWEITERUNG: EIN RÜCKBLICK

Inwiefern diese Erwartungen erfüllt wurden, wurde von den Panelist*innen zu Beginn einer kritischen Betrachtung unterzogen. Wojciech PRZYBYLSKI, Chefredakteur von Visegrad Insight und Präsident der Res Publica Foundation wollte für Polen nicht wirklich Feierstimmung aufkommen lassen. Der Beitritt sei zwar generell als Erfolgsgeschichte zu sehen, die Union in Gänze sei aber in Gefahr, insbesondere bedroht durch externe Akteure wie China oder Russland. Polen selbst habe im Laufe der Jahre immer stärker begonnen, Forderung von innen heraus zu formulieren. Die Visegrád-Gruppe, bestehend aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, sei dabei ein Instrument gewesen, um für die eigenen Interessen einstehen zu können.

In Rumänien sei der beste Moment der Erweiterung der kurz vor dem eigentlichen Beitritt gewesen, konstatierte Alina MUNGIU-PIPPIDI, Professorin für Comparative Public Policy an der Luiss Guido Carli Universität in Rom. Eine so stark ausgeprägte Motivation für das Land, Dinge nachhaltige zu verändern, wird vermutlich in der nahen Zukunft so schnell nicht wiederkommen.

Nikola DIMITROV, ehemaliger stellvertretender Premierminister und ehemaliger Außenminister der Republik Nordmazedonien, wollte dem für sein Land allerdings nicht zustimmen. Nordmazedonien sei seit 2005 offiziell Beitrittskandidat, aber immer wieder würden bilaterale Konflikte, wie beispielsweise mit Griechenland, den Prozess verzögern. Das Beispiel seines Lande stehe sinnbildlich dafür, wie der Erweiterungsprozess nicht ablaufen sollte. Dimitrov machte dafür auch strukturelle Probleme verantwortlich: Es könne nicht sein, dass ein Land Entscheidungen blockieren könne, die die Mehrheit der Mitgliedsstaaten befürworten würde.

Die Ukraine steht aktuell noch am Anfang des Beitrittsprozesses. Der Einsatz dafür, Teil der europäischen Familie zu sein, sei aber groß, so Viktoriia MELNYK vom Centre of Policy and Legal Reform in Kyjiw. 84 % der Bevölkerung möchte Teil der EU werden, das Vertrauen in die Union sei größer als in die UN oder die NATO. Diese Entwicklung resultiere auch aus der Tatsache, dass die meisten Ukrainer*innen die Reformen vor allem für sich wollen und nicht in erster Linie für den Beitritt zur EU. Sie stimmte damit den Aussagen von Mungiu-Pippidi über die durch die Aussicht auf den Beitritt ausgelöste Reformbereitschaft zu. Der Preis, den die Ukraine zahlen musste, um überhaupt die Möglichkeit zu bekommen, Teil der EU zu werden, sei allerdings immens.

DIE EU IN DER KRISE? WAS JETZT ZU TUN IST

Die EU ist derzeit mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Daher identifizierte Przybylski „Sicherheit“ als das aktuell wichtigste Narrativ. Er bezog dieses aber nicht nur auf die äußere Sicherheit. Es gäbe auch im Inneren Feinde der Demokratie. Man sei in Europa zwar nicht – wie oft behauptet – mit einem Rückgang von Demokratie konfrontiert, aber durchaus mit einer schrittweisen Übernahme demokratischer Institutionen. Dazu zählte Przybylski auch die Wahl PiS-Partei in Polen, die 2015 vor allem auf den Wunsch nach mehr Wohlstand zustande gekommen sei. Die Menschen hätten das Gefühl gehabt, dass eine neue Regierung mehr in dieser Richtung tun könne.

Während Polen bis zum Herbst des vergangenen Jahres demokratische Rückschritte zu verzeichnen hatte, galt Rumänien lange als großer Gewinner der Erweiterung, was auch Mungiu-Pippidi noch einmal betonte. Die Politikwissenschaftlerin blickte aber auch nach vorn: In einer Zeit, in der man zum zweiten Mal über eine große geopolitische Erweiterung der Union nachdenke, sei es wichtig, langfristig zu denken und zu diskutieren, wie Europa in zehn Jahren aussehen sollte. Das Europa der Gegenwart sei bereits ein Europa der Vergangenheit.

Dimitrov kam noch einmal auf die problematischen Prozesse im Rahmen der Erweiterung innerhalb der EU zu sprechen. Er bemängelte, dass Staaten benachteiligt werden, wenn sich der jeweilige Integrationsprozess verzögere. Fortschritte, die diese Staaten nichtsdestotrotz machen, würden nicht belohnt, die Vorteile seien erst nach Ende des Prozesses verfügbar. Er schlug einen schrittweisen Prozess auf Grundlage der „Kopenhagener Kriterien“ vor, der bestimmte Fördertöpfe nach Durchführung bestimmter Reformen verfügbar macht. Den Vorschlag Macrons, eine Reform der EU vor der nächsten Erweiterung anzustreben, unterstützte Dimitrov – auch, weil der sich weiter hinziehende Beitrittsprozess Mazedoniens dazu führen würde, dass das Land hochqualifizierte Fachkräfte an die EU verlieren würde.

Melnyk konnte dem nicht vollumfänglich zustimmen. Staaten, die der EU beitreten wollen, müssten verstehen, dass dies nicht an einem Tag vollzogen werden könne. Sie gab allerdings zu, dass die Ukraine in der Tat den Prozess in großen Sprüngen durchlaufe. Für den weiteren Verlaufe brauche man jetzt vor allem Personen mit den richtigen Kompetenzen, die weitere Reformen begleiten können. In Bezug auf EU-Reformen plädierte Melnyk dafür, diese parallel zu den Reformen in der Ukraine zu vollziehen.

Moderator Christian HAGEMANN (Geschäftsführer der SOG) sah somit keinen Grund zu überschwänglicher Feierstimmung am Ende der Diskussion. Es gäbe noch viel zu tun, auch wenn viele Entwicklungen der letzten Jahre durchaus funktioniert hätten. Insgesamt könne man – so sein Fazit – von einem durchwachsenen Ergebnis des Erweiterungsprozesses sprechen.

Datum:
16.05.2024, 17:00 Uhr bis 18:30 Uhr

Ort:
Deutscher Bundestag
Paul-Löbe-Haus, Saal 4.200
Konrad-Adenauer-Straße
10557 Berlin

Sprache(n):
English

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Kooperationspartner:
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