Elections without a choice?

Presidential elections in authoritarian Russia and their consequences

In March, Presidential elections will be held in Russia, officially starting on March 15. The re-election of Vladimir Putin is considered certain. Two other candidates received unexpectedly high approval ratings, but were just as quickly excluded by the electoral commission. The three remaining candidates either support Putin or have no real political profile.

So why talk about elections without proper choices? If one considers the elections not as an act of political decision-making but as a ritual act of participation and an opportunity for the regime to demonstrate its own power, it can offer a lot of insights into domestic policy processes as well as public mood.

In our Lunchtalk-webinar we want to discuss various aspects of the Presidential elections in Russia with

Sabine Fischer, Senior Fellow of the Research Division Eastern Europe and Eurasia, SWP
Margarita Zavadskaya, Finnish Institute of International Affairs

Moderation: Sebastian Lambertz (DGO)

Our speakers will outline the development of the Russian electoral system since Vladimir Putin’s third term in office, which started in 2012. Against the backdrop of the unexpected death of Alexei Navalny they will also discuss the role of the opposition and the oppositional candidates as well as the phenomenon of protest voting. Last but not least they will give an outlook on what can be expected after the elections.


Veranstaltungsbericht

Bericht: Anna Marie Zeitler

Vom 15. bis 17. März 2024 fanden in Russland Präsidentschaftswahlen statt – mit absehbarem Ergebnis: Wladimir Putin „gewann“ deutlich. Der Tod Alexei Nawalnys im Februar hatte die Opposition zusätzlich geschwächt, die handverlesenen Gegenkandidaten hatten keine realistische Chance. Einige von ihnen erhielt allerdings überraschend viel Zuspruch. Warum die Wahl trotz aller Vorhersehbarkeit in einem autokratischen System wie Russland dennoch wichtig war und wie (nicht) gewählt wurde, haben DGO-Vizepräsidentin Sabine FISCHER (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Margarita ZAVADSKAYA, Sozialwissenschaftlerin am Finnish Institute of International Affairs, im ersten DGO Lunchtalk-Webinar besprochen.

DIE ROLLE DER WAHLEN IM AUTORITÄREN RUSSLAND

Moderator Sebastian LAMBERTZ (DGO) leitet die Diskussion mit der Einschätzung des Historikers Ewgeniy Kasakow ein, die Wahlen seien unter anderem für die Sicherung des Regimes durchaus von Bedeutung. Fischer erklärt daraufhin, dass das Putin-Regime, ähnlich wie andere autoritäre Regime, Wahlen nutzt, um seine eigene Legitimität zu stärken. Teile der Bevölkerung würden die Durchführung von Wahlen mit einer Demokratie assoziieren und somit auch das russische Regime als solche ansehen – so zeigen es zumindest die Umfragen der staatlichen kontrollierten Meinungsforschungsinstitute. Dabei ist das Maß an Manipulation nebensächlich. Gleichzeitig ermöglichen die Wahlen dem Kreml auch einen Überblick über die Stimmung im Land, so Fischer. Auch die Zulassung des Gegenkandidaten Boris Nadezhdins über einen für viele Beobachter*innen überraschend langen Zeitraum kann dahingehend gedeutet werden.

DIE BEVÖLKERUNG UND IHRE „WAHL“

Auf die Frage, warum Menschen zur Wahl gehen, obwohl sie sich der Fälschung bewusst sind, verweist Zavadskaya zunächst auf eine Differenzierung der Wählerschaft: Viele Russ*innen seien Angestellte staatlicher Institutionen und seien daher im Grunde gezwungen, zur Wahl zu gehen. Dieser Druck kann auch durch die Arbeitsstelle selbst erfolgen, die digital nachvollziehen kann, ob ihre Mitarbeiter*innen wählen. Über diese forcierte Stimmabgabe hinaus sei das Interesse der Bevölkerung an den Wahlen wegen des absehbaren Ergebnisses eher niedrig, so Zavadskaya. Zumindest die Aufforderung Nawalnys zur Wahl als Ausdruck des Protests habe aber eine gewisse Resonanz erzeugt.

In seiner kurz vor der Wahl gehaltenen Rede zur Lage der Nation hatte Vladimir Putin auch auf die Armutsproblematik im Land und mögliche Gegenmaßnahmen verwiesen. Die Rede war im Westen daraufhin vielfach auch als Wahlkampfrede gedeutet worden. Ob dies auch auf die Wahrnehmung in Russland zutreffe, lasse sich nur schwer einschätzen, so Zavadskaya. Zuverlässige Meinungsumfragen würden fehlen. Grundsätzlich könne man solche Versprechen im Rahmen einer Präsidentschaftswahl erwarten, ganz unabhängig vom politischen System. Zudem soll auf diese Weise dem Misstrauen staatlichen Institutionen gegenüber begegnet werden. 

Für Fischer ist für die Interpretation der Rede zudem die Tatsache von Bedeutung, dass es kaum einen echten Wahlkampf gegeben hat. Die Kandidaten haben keine umfassenden Wahlprogramme vorgelegt, teilweise hatten sie nicht einmal eine Website oder ähnliches. Auch bei den Wahlen vergangener Jahre habe Putin seine Reden als Präsident genutzt, um Wahlversprechungen zu machen, woraus beinahe so etwas wie eine Tradition der Enttäuschung über die Nichteinhaltung dieser Versprechungen erwachsen sei. Interessant sei eher der Punkt, dass Putin von einer neuen Elite im Kontext des Krieges gegen die Ukraine sprach. Damit verknüpfte er die Zukunft Russlands mit der der Soldaten und dem Krieg. Die Kriegsziele würde man aber der Darstellung Putins zufolge in jedem Fall erreichen, so Fischer.

Zavadskaya erklärt außerdem, dass die Nichtregierungsorganisation Golos herausfand, dass Putin im Zusammenhang mit den Verlusten russischer Truppen in der Ukraine praktisch nicht erwähnt wird. Sein Name tauche nur dann auf, wenn es um Privilegien für die Truppen und Verbesserungen der Situation von Soldaten gehe. Seine neue Elite stehe allerdings im Widerspruch zur Realität, so Zavadskaya. Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg sieht man weitgehend die bereits bekannten Gesichter.

DIE GEGENKANDIDATEN

Auf die Frage, warum der Gegenkandidat Boris Nadezhdin von den Behörden nicht eher von der Wahl ausgeschlossen worden war, erläuterte Zavadskaya, dass der große Zuspruch für Nadezhdin auch für den Kreml überraschend kam. Die – weitgehend von der Präsidialverwaltung handverlesenen – Gegenkandidaten würden zudem allein deswegen Zuspruch erhalten, weil sie eben nicht Vladimir Putin sind. Diese Stimme seien nicht unbedingt mit ihren politischen Inhalten verknüpft.

Ein solches relativ unreflektiertes Zustimmungsverhalten sei laut Zavadskaya für die russische Bevölkerung ungewöhnlich, die sonst deutlich aufmerksamer auf die Vergangenheit der Kandidat*innen blickt. Daher hatte auch die relativ früh ausgeschlossene Kandidat*in Yekaterina Duntsova in keine Schwierigkeiten, in kurzer Zeit viele Unterschriften zu sammeln. Eine solche Zustimmungsrate, die durchaus zur Gefahr für Putin hätte werden können, hatte der Kreml nicht erwartet. In dieser Tatsache zeigt sich das mangelhafte Verständnis der Führungselite für die russische Gesellschaft, so Fischer.

Wichtige Unterschiede zwischen den genannten Kandidaten liegen in ihrer Kandidatur: Duntsova war als unabhängige Kandidatin angetreten, Nadezhdin als Kandidat einer Partei. Damit sind unterschiedliche Zulassungsprozesse verbunden. Unabhängige Kandidat*innen müssen eine Gruppe aus mindestens 500 „persons of trust“ vorweisen und deutlich mehr Unterschriften vorlegen als Parteikandidat*innen. Die Unterschriften dürfen zudem nicht nur aus einer Region stammen. Da Duntsova Listes der „persons of trust“ bereits im September nicht anerkannt worden war, hatte sie allerdings gar nicht erst die Möglichkeit, Unterschriften zu sammeln. Nadezhdin konnte als Parteikandidat wiederum direkt mit der Sammlung von Unterschriften beginnen. Seine Kandidatur konnte somit ein Meinungsbild der Bevölkerung liefern. Inwiefern Nadezhdin tatsächlich zu einer Gefahr für Putin hätte werden können, sei aber nur schwer zu beantworten, so Zavadskaya. Die Informationsasymmetrie in autoritären Regime ist dafür zu groß, Meinungsumfragen können nicht zuverlässig verwendet werden. Die Politikverdrossenen stimmen zudem tendenziell eher für Putin. Beim Blick auf die Opposition sollte man daher nicht auf die Kandidaten selbst, sondern auf die mobilisierte Ablehnung der aktuell Regierenden insgesamt fokussieren, so Zavadskaya.

DIE „WAHL“ DER RUSSISCHEN BEVÖLKERUNG

Ein wichtiger Indikator in diesem Zusammenhang ist das sogenannte „strategic voting“ – also die bewusste Wahl der Oppositionskandidat*innen, die in ihrem jeweiligen Wahlkreis die größte Siegeschance haben. Vielen Wähler*innen geht es dabei um die strategische Destabilisierung des Regimes, so Zavadskaya. Die Wahl sei zudem ein wichtiger Anlass zu Protesten im Namen Alexei Nawalnys, der noch vor seinem Tod all diejenigen, die ihren Protest gegen Putin ausdrücken möchten, dazu aufgerufen, am letzten Wahltag um 12 Uhr zu den Wahllokalen zu gehen und mit den so entstehenden Warteschlangen das Ausmaß der Unzufriedenheit zu demonstrieren. Fischer verwies darauf, dass der verstorbene Oppositionelle eine ernstzunehmende Gefahr für Putin und seine Anhänger gewesen war, was auch an der großen Anteilnahme bei seiner Beerdigung erkennbar gewesen sei. Die gegenseitige Unterstützung und den Mut, die Slogans Nawalnys zu rufen, sei für den Ausdruck der Unzufriedenheit von großer Bedeutung gewesen. Angesichts des Ausmaßes dieser Demonstrationen fürchtet sie starke Repressionen im Kontext der Wahlen und bei möglichen Protesten. Nach den Wahlen würde die Unterdrückung deutlich zunehmen, ist die düstere Prognose Zavadskayas. Das Regime werde durch das in jedem Fall sehr gute Wahlergebnis für Putin gestärkt, seine repressive Dimension noch stärker hervortreten.

Eine Mobilisierung gegen den Krieg gegen die Ukraine hält Fischer trotz einiger Prognosen für unwahrscheinlich. Die militärische Lage Russlands in der Ukraine ist aktuell noch nicht problematisch genug, sodass es keiner weiteren Mobilisierungswelle bedarf. Auch warte man in Moskau das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA ab, die die militärische Unterstützung der Ukraine massiv beeinträchtigen könnten, so Fischer. Sollte dies der Fall sein, könnte man eine potenzielle Destabilisierung im Land vermeiden, da langfristig keine weitere Mobilisierung notwendig sei.

Das Webinar ermöglichte neben einem Einblick in die Bedeutung von Wahlen in autoritären Regimen und Putins Rede zur Nation auch eine Einschätzung des Wahlverhaltens der Menschen in Russland sowie möglicher Proteste gegen die Regierung.

Datum:
04.03.2024, 12:30 Uhr

Online/Zoom

Sprache(n):
English

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde