Osteuropa-Expertise: Wissenschaft und „Softpower“ in Zeiten des Krieges
Veranstaltung anlässlich des 75. Jubiläums der (Wieder-)Gründung der DGO in Stuttgart
Es herrscht wieder Krieg in Europa. Seit dem vollumfänglichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine liefern Berichte in den deutschen Medien Schlagzeilen und Analysen über den Krieg. Aber gute Berichterstattung braucht Hintergrundwissen. Der Bedarf an Wissen über Kultur, Geschichte und Gesellschaft in Ländern und Regionen wird in geopolitischen Krisenzeiten besonders sichtbar. Um außenpolitische Konflikte einordnen zu können, braucht es den Blick auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in den Ländern. Welche Rolle spielt Regionalwissen als „Softpower“ für die Außen- und Sicherheitspolitik? Und was ist erforderlich, um dieses Wissen jenseits politischer Konjunkturen sicherzustellen?
Als größter Verband der deutschsprachigen Osteuropaforschung ist die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) ein wichtiges Forum für Wissenschaft und Öffentlichkeit. Vor 75 Jahren – am 18. November 1949 – wurde die DGO in Stuttgart auf Initiative des Publizisten Klaus Mehnert (wieder) gegründet. Aus Anlass dieses Jubiläums diskutieren wir über die Relevanz der Regionalwissenschaften für Politik und Gesellschaft sowie über den Wandel der Anforderungen an Osteuropaexpertise vom beginnenden Kalten Krieg bis heute.
Begrüßung
ifa – Institut für Auslandsbeziehungen
Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde
Einführung
Zwischen wissenschaftlicher Objektivität und antikommunistischer Gegnerforschung. Die (Wieder-)Gründung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde 1949
Paul Schröck, Universität Freiburg
Diskussion
Klaus Gestwa, Eberhard Karls Universität Tübingen
Tamina Kutscher, Journalistin, Berlin
Matthias Middell, Universität Leipzig
Moderation: Gabriele Freitag, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde
Anschließend: Empfang im Weltcafé
Für Interessierte gibt es um 16:00 Uhr eine Führung durch die Bibliothek des Instituts für Auslandsbeziehungen: Die ifa Bibliothek ist die einzige wissenschaftliche Spezialbibliothek zum Themengebiet Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und internationale Kulturbeziehungen. In einem geführten Rundgang bietet das Bibliotheksteam Einblicke in die Bestände, Online-Angebote und Räumlichkeiten der Bibliothek und setzt den Schwerpunkt auf osteuropäische Kulturbeziehungen.
Um 17:00 Uhr findet eine Präsentation von Bibliotheksbeständen aus und über Osteuropa statt: Die Bibliothek des Instituts für Auslandsbeziehungen hat einen umfangreichen Bestand hauptsächlich deutschsprachiger Zeitungen, Zeitschriften und grauer Literatur aus Osteuropa. Eine Auswahl besonders seltener oder für die Forschung schwer zugänglicher Bestände wird präsentiert und über die geplante Digitalisierung berichtet.
Anfahrt
Das ifa befindet sich ca. 15 Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt und direkt an der U-Bahn Haltestelle Charlottenplatz. Bitte beachten Sie, dass direkt am ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) keine Parkmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Bitte nutzen Sie als Eingang für alle Veranstaltungspunkte den Durchgang der ifa Galerie zum Innenhof am Charlottenplatz.
Veranstaltungsbericht
Bericht: Carla Kerkmann
Seit über 100 Jahren ist die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) bereits ein wichtiges Forum für Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Geschichte des inzwischen größten Verbands der deutschsprachigen Osteuropaforschung ist dabei allerdings eine wechselhafte. 1913 als Gesellschaft zum Studium Russlands gegründet, wurde sie in der Zeit des Nationalsozialismus weitgehend gleichgeschaltet und 1939 endgültig aufgelöst. 10 Jahre später – am 18. November 1949 – erfolgte die Wiedergründung auf des Publizisten Klaus Mehnert in Stuttgart wiedergegründet. Anlässlich dieses Jubiläums veranstaltete die DGO in Kooperation mit dem ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) in Stuttgart eine Podiumsdiskussion zum Thema Osteuropa-Expertise: Wissenschaft und „Softpower“ in Zeiten des Krieges.
Im Zentrum stand dabei die Berichterstattung über den vollumfänglichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und das dafür notwendige Hintergrundwissen. Der Krieg hat einmal gezeigt, dass der Bedarf an Wissen über Kultur, Geschichte und Gesellschaft in Ländern und Regionen in geopolitischen Krisenzeiten besonders hoch ist. Und um außenpolitische Konflikte einordnen zu können, braucht es den Blick auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in den Ländern. Die Journalistin Tamina KUTSCHER, Klaus GESTWA (Professor für Osteuropäische Geschichte der Universität Tübingen) und Matthias MIDDELL (Professor für Kulturgeschichte an der Universität Leipzig) diskutierten über die Relevanz der Regionalwissenschaften für Politik und Gesellschaft sowie über den Wandel der Anforderungen an Osteuropaexpertise vom beginnenden Kalten Krieg bis heute.
Zur Begrüßung verwies Gastgeber Sebastian KÖRBER, stellvertretender Generalsekretär des ifa, auf die Wichtigkeit von Regionalwissenschaften in Zeiten von globalen Krisen und regionalen Kriegen. DGO-Präsident Ruprecht POLENZ warf einen kritischen Blick auf die Geschichte der Gesellschaft von ihrer Gründung 1913 bis heute zurück und zog Parallelen zwischen der Zeit der Wiedergründung vor 75 Jahren und der politischen Lage der Gegenwart. Zudem sprach er über das Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, in dem sich die DGO seit ihrer Gründung befinde und das immer auch ein Spiegel der deutschen Beziehungen zum östlichen Europa bilde. Die Forderung nach einer „Feindbeobachtung“, wie sie dieses Spannungsfeld während des Kalten Krieges hervorgebracht habe, dürfe, so Polenz, heute aber keinesfalls mehr Aufgabe der DGO sein.
Ein solches Spannungsfeld war auch Thema im Einführungsvortrag von Paul SCHRÖCK (Universität Freiburg). Schröck zeichnete die Debatten im Kontext der Neugründung 1949 nach und zeigte auf, wie sich diese zwischen den Polen von wissenschaftlicher Objektivität und antikommunistischer Gegnerforschung bewegten. Diese Pole würden angesichts der aktuellen politischen Lage in Europa wieder zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Osteuropa-WISSENSCHAFTEN UND REGIONALSTUDIEN
In der anschließenden Podiumsdiskussion stand zunächst die Frage nach dem Potenzial und den Herausforderungen von Regionalstudien und insbesondere der Osteuropa-Wissenschaften im Mittelpunkt. Gestwa sah dabei die Aufgabe der Osteuropa-Wissenschaft vor allem in der Untersuchung und Entlarvung von historischen Narrativen, die in Form von Gedenkpolitik in der russischen Propaganda genutzt werden. Middell wiederum verwies auf die koloniale Vergangenheit der Regionalstudien und erläuterte deren Schwerpunkte sowie die daraus resultierenden „Lücken“ – also Länder und Regionen, die nicht im Fokus konkreter Regionalstudien stehen. Gestwa definierte die Ukraine als eine solche „Lücke“, die es von der Osteuropa-Wissenschaft zu schließen gelte. Auch im Journalismus, so Kutscher, gäbe es eine solche Schwerpunktsetzung, die aber ebenfalls Lücken hervorbringe.
Middell zog einen Vergleich zum Aufbau der Regionalstudien in China. Dort würden diese als Hauptdisziplin angesehen, die institutionell besser verankert seien als in Deutschland. Darüber hinaus gab er zu bedenken, dass Regionalstudien in China – anders als im Westen – eben keinen kolonialen Charakter hätten. Der Druck auf die Regionalstudien sich im globalen Kontext zu verändern und angesichts internationaler Konkurrenz weiterzuentwickeln, sei im Westen daher deutlich stärker.
Gestwa thematisierte die Folgen von Russlands zunehmender Autokratisierung und der damit verbundenen abnehmenden Möglichkeiten von Forschung in und zu Russland für die Regionalstudien. Andere Regionen, wie Zentralasien und der Südliche Kaukasus würden dadurch in den Fokus rücken. Trotzdem sei die Forschung zu Russland weiterhin wichtig, betonte er. Kutscher gab zu bedenken, dass auch die Situation ausländischer Journalist*innen in Russland zunehmend schwieriger würde, da deren Akkreditierung und Arbeit unter der strengen Kontrolle des Regimes stünden.
POLITISCHE DEBATTEN IN DEN DEUTSCHEN MEDIEN
In der Folge kamen die Panelist*innen auch auf die deutsche Medienlandschaft zu sprechen. Middell zeichnete dabei ein sehr düsteres Bild der sächsischen Medien, die er als Leipziger Professor besonders gut kennt. Kutscher konnte dem nicht vollumfänglich zustimmen und äußerte den Wunsch nach der Rückkehr einer faktenbasierten Diskussion über die politische Theorien und Handlungsempfehlungen. Zudem forderte sie differenzierte Berichte statt unvollständiger Vereinfachungen. Dies sei in Zeiten von Populismus und Desinformation besonders relevant. Middell erwiderte darauf, dass seiner Meinung nach im angelsächsischen, ebenso wie im französischen Raum, mehr um die Wahrheit gerungen würde als in den deutschen Medien. Er warf den deutschen Medien, aber auch der Gesellschaft vor, sich zu sehr auf die Politik Putins zu fokussieren und die russische Gesellschaft als Ganzes außer Acht zu lassen: Gestwa widersprach dem entschlossen.
FEINDBEOBACHTUNG
Auf die Frage, ob die Osteuropa-Wissenschaft Gefahr laufe, in ihrer Betrachtungsweise auf alte Feindbilder aus der Zeit des Kalten Kriegs zurückzufallen gab Gestwa zu bedenken, dass Osteuropa-Wissenschaftler*innen heute deutlich mehr persönliche Kontakte nach Russland pflegen würden. Die Gefahr, in undifferenzierte Freund-Feind-Dichotomien zu verfallen, sei dadurch kleiner, als noch zu Zeiten der Wiedergründung der DGO. Middell argumentierte, dass es schwer sei, in der aktuellen Situation festzustellen, ob die Wissenschaft zur Feindbeobachtung verkomme. Dies könne man nur im Rückblick feststellen.
Einig waren sich die Beteiligten darin, dass Regionalstudien in Zeiten regionaler Kriege und globaler Krisen besonders relevant seien. Gleichzeitig dürfe man aber auch ihre Weiterentwicklung nicht aus den Augen verlieren. Eine Feindbeobachtung solle auch in Zeiten des russischen Krieges gegen die Ukraine dringend vermieden werden, stattdessen sei eine faktenbasierte Diskussion um politische Handlungsmöglichkeiten wichtig.