„Keinerlei gesundheitliche Gefährdungen"

Tschernobyl, die Stasi und die Rolle der Umweltbewegungen

„Tschernobyl wirkt überall" – unter diesem Leitsatz protestierten nach der Reaktorkatastrophe im Jahr 1986 immer mehr Menschen gegen die desolate Umweltpolitik der SED. Bereits in den frühen 80er Jahren hatten sich angesichts der verheerenden ökologischen Bilanz der DDR unabhängige Umweltgruppen formiert. Tschernobyl bewirkte eine zusätzliche Mobilisierungswelle und damit das weitere Erstarken der Ökologiebewegung. So gerieten die Umweltgruppen zunehmend ins Visier der Stasi. Argwöhnisch verfolgte die Staatssicherheit die ökologisch motivierten Aktivisten, hörte Telefongespräche mit, montierte Abhöranlagen und setzte Spitzel ein.

Auch in den betroffenen Republiken der Sowjetunion und in den benachbarten osteuropäischen Staaten schlugen Umweltschützer Alarm, weil die wahren Ausmaße der Katastrophe offensichtlich verschleiert werden sollten. Hier reagierten die Geheimpolizeien ebenfalls mit Repression. Die Umweltbewegungen konnten sie aber weder in der DDR noch in Osteuropa brechen. Bis heute haben sie ihre politisierende Kraft nicht verloren.

Einführung:
Sebastian STUDE, BStU
 
Podiumsdiskussionen mit:
Thorben BECKER, BUND
Manfred HAFERBRUG, Atomkraftexperte und Zeitzeuge
Dr. Christian HALBROCK, BStU
Dr. Sebastian PFLUGBEIL, Physiker
Dr. Anna Veronika WENDLAND, Herder-Institut

Moderation:
Dr. Gabriele FREITAG, DGO
Dagmar HOVESTÄDT, BStU

Die Veranstaltung findet in Kooperation mit dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) sowie mit dem Internationalem Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) statt.

Veranstaltungsprogramm

programm_flye… (PDF, 295 kB)

Sebastian Stude
Dagmar Hovestädt, Manfred Haferburg, Christian Halbrock, Sebastian Pflugbeil
Gabriele Freitag, Thorben Becker, Anna Veronika Wendland
Gabriele Freitag, Thorben Becker, Anna Veronika Wendland, Sebastian Pflugbeil

Veranstaltungsbericht

„Tschernobyl wirkt überall" – unter diesem Leitsatz protestierten nach der Reaktorkatastrophe im Jahr 1986 immer mehr Menschen gegen die desolate Umweltpolitik der SED. Die Staatssicherheit verfolgte die Aktivisten zunächst argwöhnisch. Auch in den betroffenen Republiken der Sowjetunion und in den benachbarten osteuropäischen Staaten reagierten die Geheimpolizeien auf Proteste aus der Bevölkerung repressiv. Bewirkte Tschernobyl eine Mobilisierung für die Ökologiebewegung in der DDR und Osteuropa? Wie stand es um die politisierende Kraft der Umweltgruppen und wie definieren sie sich heute? Und wie reagierten die sozialistischen Staatsapparate auf den "anthropologischen Schock" Tschernobyl?

Wie die westdeutsche Öffentlichkeit erfuhren auch die DDR-Regierung und die Staatssicherheit von dem Reaktorunfall nahe der ukrainischen Kleinstadt Prypjat im April 1986 erst Tage nach der Katastrophe. Die Hilflosigkeit der Situation gegenüber lähmte, so Sebastian STUDE, Mitarbeiter des BStU, zunächst auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Viele DDR-Bürger erfuhren über westliche Medien von dem Reaktorunfall, sodass die staatliche Strategie der Desinformation weitgehend ins Leere lief. Kurzzeitig konnten die bereits seit den frühen 1980er Jahren existierenden Umweltgruppen so mehr Menschen für ihre Sache mobilisieren als zuvor. Der Effekt der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sei aber, so Stude weiter, nur ein Impuls ohne nachhaltige Breiten- und Tiefenwirkung für die ostdeutsche Ökologiebewegung geblieben.

Ähnlich argumentierte der Physiker und Friedensforscher Sebastian PFLUGBEIL. Die Risiken der Atomenergie seien bis zum Frühjahr 1986 kaum bekannt gewesen, eine öffentliche Diskussion darüber habe aber auch nach der Katastrophe kaum stattgefunden – auch infolge der spärlichen Informationslage. Die Schuld für die Katastrophe sei im Osten wie im Westen der maroden russischen Technik des Kraftwerks von Tschernobyl zugeschrieben worden.

Die Atomindustrie der DDR unterlag strengster Geheimhaltung. Arbeiter in Kernkraftwerken der DDR hätten unter dauerhafter Beobachtung des MfS gestanden, so Manfred HAFERBURG, ehemaliger Ingenieur für Maschinenbau am Kernkraftwerk Bruno Leuscher bei Greifswald. Vorschläge, etwa zur Erhöhung der Sicherheit der Anlagen, seien grundsätzlich abgelehnt worden. Einen technischen oder wissenschaftlichen Austausch über die Risiken der Kernenergie habe es nicht gegeben.

Christian HALBROCK, DDR-Umweltaktivist und heute Mitarbeiter des BStU, wies darauf hin, dass bereits vor Tschernobyl eine Aufbruchsstimmung innerhalb der ostdeutschen Umweltbewegung geherrscht habe. Die Katastrophe von 1986 habe lediglich dazu geführt, dass die Atomenergie zu einem wichtigen Thema für die Aktivisten geworden ist. Eine breite, politisch wirksame Anti-AKW-Bewegung sei jedoch nicht entstanden.

Selbst in der ukrainischen Umweltbewegung habe es keine breite Diskussion ökologischer Themen nach dem Reaktorunfall gegeben, so Anna Veronika WENDLAND vom Herder-Institut für Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Vor der Katastrophe habe die Atomenergie angesichts der Kohle- und der extensiven Wasserenergienutzung in der Ukraine sogar als Chance zur sauberen Energieproduktion gegolten. Der Unfall sei eher als Illustration der systemischen Probleme der Sowjetunion wahrgenommen worden und habe den jungen nationalistischen Bewegungen in der Ukraine und Osteuropa Aufwind gegeben. So lasse sich auch der plötzliche Umschwung vormaliger Atomkraftgegner nach dem Zerfall der Sowjetunion erklären: Kernkraftwerke, die sich unter nationaler Verwaltung befanden, waren Ausdruck für den Aufbau souveräner, von Russland unabhängiger Volkswirtschaften.

Thorben BECKER vom BUND bekräftigte diese Einschätzung auch für die von ihm beobachteten ökologischen Bewegungen in Ungarn und Tschechien. Gleichzeitig stellte er in neuerer Zeit eine Orientierung ostmitteleuropäischer Umweltbewegungen an den rechtsstaatlichen Möglichkeiten der EU zur Verhinderung von AKW-Neubauten fest.

In Deutschland und auch in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten innerhalb der EU, so die allgemeine Einschätzung, sei in den nächsten Jahren keine Renaissance der Atomenergie zu erwarten. Nach der Havarie des Kraftwerks von Fukushima sei mit dem deutschen Atomausstieg ein nachhaltiger Politikwechsel vollzogen worden.

Bericht: Nina Krienke
Fotos: BStU/Griebe

 

Den Veranstaltungsbericht finden Sie im Rundbrief 1/2016, S. 57-58, und im nachfolgenden PDF-Dokument.

Einen Audiomitschnitt der Podiumsdiskussion (Dauer: 1:57 Std.) können Sie hier herunterladen:

veranstaltung… (MP3, 219.071 kB)

veranstaltung… (PDF, 118 kB)

Datum:
20.04.2016, 19:00 Uhr

Ort:
Zionskirche
Zionskirchplatz
10119 Berlin

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

programm_flye… (PDF, 295 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde