Mehr als nur Blau-gelb
Region und Nation in der Geschichte der Ukraine
Vor dem Hintergrund des blutigen Konflikts in Teilen der Ostukraine und der dramatischen politischen und militärischen Ereignisse der letzten rund zweieinhalb Jahre stellen sich grundlegende Fragen zur Geschichte der Ukraine neu. Eine zentrale Frage ist dabei die nach der Diversität der Regionen des Landes und dem Zusammenhang von Region und Nation. Gleichzeitig ist Nationsbildung in der Ukraine keineswegs ein abgeschlossener Prozess, sondern vollzieht sich vor unseren Augen und wird durch den gegenwärtigen Konflikt mit Russland beschleunigt und politisiert. Die Frage, wie sich die Regionen zur sich neu erfindenden Nation positionieren, ist höchst aktuell.
An der Tagung nehmen Historiker*innen sowie Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen anderer Disziplinen aus der Ukraine selbst, aus Deutschland und Europa, aus Russland sowie aus den USA und Kanada teil. Am 17. Juni, 19 Uhr trägt Professor Andreas KAPPELER zum Thema „Region und Nation in der Geschichte und Gegenwart der Ukraine“ vor.
Veranstalter der Tagung sind der Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e. V. (VOH) und die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission. Kooperationspartner sind das DHI Warschau, die Max Weber Stiftung sowie die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e. V. (DGO).
Veranstaltungsprogramm
flyer_region_… (PDF, 1.467 kB)
Veranstaltungsbericht
Bericht: Franziska Davies, Abteilung für Geschichte Osteuropas und Südosteuropas, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ziel der vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und –historiker e.V. (VOH) und der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission organisierten Konferenz war die Untersuchung des Verhältnisses nationaler zu regionalen Perspektiven. Schon in ihrer Begrüßung erinnerte die VOH-Vorsitzende Julia OBERTREIS (Erlangen-Nürnberg) daran, dass das Interesse an der Geschichte der Ukraine zwar gestiegen sei, die Wahrnehmung einer Zweiteilung des Landes aber nach wie vor dominiere. Tatsächlich aber zeichne sich die Ukraine durch ihre regionale Vielfalt aus, die stärker sichtbar gemacht werden sollte. Im Namen des kooperierenden Deutschen Historischen Instituts (DHI) Warschau und der Max-Weber-Stiftung begrüßte Miloš ŘEZNĺK (Warschau) die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und zeigte sich erfreut darüber, dass die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission von Beginn an komparativ und transregional gearbeitet habe. Zugleich verwies er auf die Vielzahl der durch die Max-Weber-Stiftung geförderten Projekte zur Erforschung regionaler und transregionaler Geschichte. Der erste Konferenztag fand in den Räumlichkeiten der ukrainischen Botschaft statt, dort begrüßte auch der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij MELNYK (Berlin), die Teilnehmer/innen. Dabei versprach er der deutsch-ukrainischen Kommission noch einmal ausdrücklich die Unterstützung der Ukraine, versicherte aber zugleich, dass eine politische Einmischung in die Arbeit der Kommission außer Frage stehe. Vielmehr sei es die Aufgabe der Kommission, auch die dunklen Kapitel ukrainischer Geschichte kritisch aufzuarbeiten.
Die erste Sektion war konzeptionellen und historiographischen Fragen zu „(Trans)Regionalität und Nation“ gewidmet. Miloš ŘEZNĺK führte aus, dass in den letzten Jahrzehnten Regionen sowohl in Wissenschaft als auch in Politik eine Konjunktur erlebt haben. In den Geschichtswissenschaften wurden Regionen in den 1980er- und 1990er-Jahren zu eigenen Forschungsfeldern, wobei sie oft im Verhältnis zu größeren räumlichen und kulturellen Einheiten wie dem Staat oder der Nation untersucht wurden. Ein aktuelles Beispiel für eine solche Verzahnung nationaler und regionaler Fragen ist der Krieg im und um den Donbas, dies machte der Vortrag von Andrii PORTNOV (Berlin) deutlich. Portnov zeigte am Beispiel der sogenannten Ukraine-Krise, dass Regionen genauso einfach essentialisiert werden können wie Nationen. So würde der Krieg in der Ukraine oft mit angeblich starren ethnischen Identitäten erklärt und auf diese Weise würden soziale, politische, militärische und ökonomische Faktoren marginalisiert. Auf die ukrainischen Traditionen regionaler Geschichtsschreibung ging Guido HAUSMANN (Regensburg) ein. Die Ursprünge ukrainischer Regionalgeschichtsschreibung lassen sich in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, als Historiker wie Mykola Kostomarov und Volodymyr Antonovič nicht nur das Volk als Subjekt der Geschichte entdeckten, sondern sich auch für die Geschichte kleinerer Orte zu interessieren begannen. Eine Blüte erlebt die Regionalgeschichte in den 1920er-Jahren, als eine Vielzahl landeskundlicher Kommissionen gegründet wurde, bevor diese Tradition unter stalinistischer Herrschaft jäh abbrach. Erst allmählich lebte nach 1945, besonders in den 1960er-Jahren, die Regionalgeschichte wieder auf, stand allerdings noch stark unter sowjetischen Vorzeichen. In den 1990er-Jahren wurden regionale Studien wieder verstärkt gefördert, oft durch regionale Eliten. Insgesamt, so Hausmann, läge der Beitrag regionaler Forschungen im empirischen Gehalt und weniger in methodischen Innovationen.
Im folgenden Panel betrachte Frank SYSYN (Edmonton) die Herausbildung regionaler und proto-nationaler Identitäten in der Frühen Neuzeit. Die Union von Lublin (1569) begriff Sysyn dabei als einen Wendepunkt ukrainischer Geschichte, weil diese in eine Zweier-Union mündete und sich nicht zu einer Dreier-Union (polnisch, litauisch, ruthenisch) entwickelte. Dabei formierte sich im 16. und 17. Jahrhundert ein ruthenisches Sonderbewusstsein, das in der Mitte des 17. Jahrhunderts explizit formuliert wurde und Adelige wie auch Bürger integrierte. Zu eben jener Zeit erodierte allerdings auch die Basis einer mit regionalen Sonderrechten ausgestatteten ruthenischen „Nation“. Liliya BEREZHNAYA (Münster) gebrauchte das Konzept der „multiple borderlands“, um die Geschichte der ruthenischen Länder in der Frühen Neuzeit zu fassen. Diese hätten sich durch die Besonderheit ausgezeichnet, einerseits zur inneren Peripherie Polen-Litauens zu zählen, andrerseits aber die militärische Grenzregion im Osten zu konstituieren. Zugleich entwickelten sich die ruthenischen Länder auch zu einer kulturellen und religiösen „frontier“, nicht zuletzt dadurch, dass für die ruthenischen Adeligen durch den Chmel'nyc'kyj -Aufstand religiöse Identitäten massiv an Bedeutung gewannen. Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete der Abendvortrag von Andreas KAPPELER (Wien): Er bot eine umfassende Gesamtschau der Wechselbeziehungen zwischen Nation und Region in der ukrainischen Geschichte und stellte sich dabei dezidiert gegen die in Deutschland weiterhin verbreitete Vorstellung, die Ukraine als eine regionale Variante der russischen Nation zu begreifen. Vielmehr habe sich die Ukraine zu einer eigenständigen Nation entwickelt, die sich zwar durch eine historische bedingte regionale Vielfalt und stark ausgeprägte regionale Identitäten auszeichne, die aber stets in einem engen Wechselverhältnis zu nationalen Entwürfen stünden.
Ein Panel zu modernen Regions- und Nationsbildungen im 19. Jahrhundert bildete den Auftakt zum zweiten Konferenztag. Ricarda VULPIUS (München) analysierte in ihrem Vortrag die Rolle von Geistlichen als Träger regionalen und nationalen Bewusstseins. In der Dnipro-Ukraine war die Geistlichkeit zwar sehr stark russifiziert, trotzdem bildete sich nach dem polnischen Aufstand von 1863 eine Spaltung zwischen Russo- und Ukrainophilen heraus. Die Ukrainophilen waren dabei eindeutig in der Defensive und vermochten es kaum ihre Vorstellungen gegen die staatlich unterstützen Russophilen und die kulturell dominierenden Polen durchsetzen. Eine Ausnahme bildete allerdings die Grenzregion Podolien, in der Geistlichen auf Grund ihrer Frontstellung gegenüber Polen von St. Petersburg größere Freiräume eingeräumt wurden. So konnte sich hier ein regionales, ukrainisches Sonderbewusstsein herausbilden, deren Träger sich sowohl von Polen als auch von Russland abgrenzten. Volodymyr KRAVCHENKO (Edmonton) richtete den Blick auf die Verbindung von Geographie, Ethnizität und Geschichte im Kontext der Expansion und Modernisierung des russischen Zarenreichs im eurasischen Raum vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Er erinnerte dabei noch einmal an die Fluidität und die Verbindungen der Konzepte von Russland, Rus‘, Klein- und Großrussland. Für viele Ukrainer war „Kleinrussland“ zunächst vor allem das Zentrum „Großrusslands“, wobei aber die Frage nach den territorialen Grenzen dieser Raumvorstellungen umstritten blieb. Im letzten Panel stellte Frank GOLCZEWSKI (Hamburg) russischen und ukrainischen Nationalismen etwas holzschnittartig gegenüber. Im russischen Fall unterschied er zwischen dem offiziellen Nationalismus des Staates und dem Nationalismus der Slawophilen, die die russische bäuerliche Gemeinschaft idealisiert und die Befreiung des „Volkes“ vom europäisierten Adel propagiert hätten. Nach dem Krimkrieg habe sich der slavophile Nationalismus schließlich zu einem säkularen Panslawismus entwickelt und die Nation imperialisiert. Dem gegenüber hätten Varianten des ukrainischen Nationalismus gestanden, die entweder – wie die Kyrill und Method Gesellschaft – die Ukraine als Zentrum einer panslavischen Föderation imaginierten oder wie der Historiker Mychajlo Hruševs'kyj eine Geschichte des Volkes „von unten“ schrieben und die Idee einer spezifisch ukrainischen Freiheitsliebe popularisierten.
Anschließend standen regional unterschiedliche Erfahrungen der Revolution und des Zwischenkriegs im Mittelpunkt. In einem eindrücklichen Vortrag gewährte Serhii PLOKHII (Cambridge) Einblicke in die Ergebnisse des in Harvard angesiedelten Forschungsprojektes des Holodomor-Atlas, in dem die regionalen Spezifika der Hungersnot von 1932-33 analysiert und in Karten visualisiert werden. Die Forscher konnten zeigen, dass für das Ausmaß der Hungersnot in einzelnen Regionen weder Ethnizität noch Religion eine Rolle spielten, dafür aber die Verwaltungsbezirke, die die Sowjetunion selbst erschaffen hatte und die das politische Handeln mitbestimmten. Ökologie war auch entscheidend, dadurch dass politische Entscheidungsträger die Kollektivierung in Abhängigkeit von ökologischen Faktoren vorantrieben. Die im hohen Maße von der Kollektivierung betroffene Südukraine hatte aus Sicht der Regierung Vorrang, wenn es um die (beschränkte) Lieferung von Hilfsgütern ging und wies deswegen eine geringere Opferzahl auf als die Zentralukraine. Andrerseits waren die nördlichen Regionen noch weniger betroffen, weil hier die Kollektivierung am wenigsten fortgeschritten war. Kerstin JOBST (Wien) widmete sich in ihrem Vortrag der sowjetischen Kultur- und Bildungspolitik auf der Krim in der Zwischenkriegszeit. Diese Zeit wird in der Historiographie oft als die „goldene Zeit“ der Krim beschrieben – ein Urteil, das Jobst einer kritischen Revision unterzog. Einerseits habe es auch in den 1920er-Jahren auf der Krim wie in der gesamten Sowjetunion eine Politik der korenizacija (Einwurzelung) gegeben, die auf eine Förderung krimtatarischer nationaler Eliten und der tatarischen Sprache abzielte. Andrerseits sei das Verhältnis zwischen sowjetischen Staat und den Krimtataren nach wie vor ein koloniales gewesen und schon 1928 lässt sich eine Abkehr von der frühen Nationalitätenpolitik beobachten. Die Krim war außerdem ebenso von den Hungersnöten der Jahre 1921/23 und 1932/33 und dem stalinistischen Terror der dreißiger Jahre betroffen, der sich besonders gegen die krimtatarische Intelligenz richtete. Der letzte Beitrag des Panels behandelte mit den Karpaten einen Raum in der westlichen Ukraine, der sowohl in der ungarischen, ruthenischen, jüdischen und huzulischen Erinnerung ein zentraler Bezugspunkt ist. Julia RICHERS (Bern) rekonstruierte aber nicht nationale Ansprüche, sondern analysierte stattdessen die Selbstwahrnehmungen der lokalen Bevölkerung in dem Dorf Rachiv/Rachovo/Rahó während der Zwischenkriegszeit. Richers Ansatz verdeutlichte, dass ein Raum wie die Karpaten weder ausschließlich national noch imperial erzählt werden kann. Grenzverläufe waren nicht topgraphisch, es herrschten keine eindeutigen Mehrheiten und Minderheiten, so dass letztlich nur eine multi-perspektivische Betrachtung einer solchen Region gerecht werden kann.
Den Abschluss der Konferenz bildete ein Panel zur späten Sowjetunion und der unmittelbaren Gegenwart. Tatiana ZHURZHENKO (Wien) reflektierte das Konzept der „borderlands“ sowohl für die westliche als auch die östliche Ukraine. Eine Gefahr sah Zhurzhenko in der Nostalgie für die verlorenen multiethnischen „borderlands“, die oft auf eine Exotisierung dieser Regionen hinauslaufen würde. In der Ukraine seien im Zuge der Desintegration der Sowjetunion und der Erweiterung der europäischen Union neue „borderlands“ entstanden, deren regionale Eliten aber unterschiedliche Diskurse hervorbrachten. Plastisch wurde dies in Zhurzhenkos Vergleich zwischen Lemberg und Charkiv: In Lembergs Erinnerungskultur wird die Idee der Multikulturalität gepflegt und das verlorene jüdische und polnische Erbe beansprucht, nicht zuletzt um den Anspruch der Stadt als europäischen Vorposten der Ukraine zu untermauern. In Charkiv dagegen war der Zusammenbruch der Sowjetunion prägend und die Frustration über eine besonders in den 1990er Jahren neue, als künstlich empfundene Grenze zu Russland. Hier erfüllte der „borderland“-Diskurs vor allem die Funktionen, die russophone Identität der Stadt und die Geschäftsinteressen regionaler Eliten in Russland zu legitimieren. Erst durch den Krieg mit Russland sei die Vorstellung einer „borderland“ durch die Betonung einer „frontier“ zwischen Russland und der Ukraine ersetzt worden. Im letzten Vortrag von Ulrich SCHMID (St. Gallen) ging es noch einmal um die Produktion von Karten über die Ukraine, allerdings in einem anderen Kontext. Schmid verwies darauf, dass z. B. das Verhältnis von Sprache und Ethnizität, die Komplexität von Identitäten auf Karten oft nicht angemessen abgebildet werde und stellte alternative Karten vor, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Region, Nation and Beyond. An Interdisciplinary and Transcultural Reconsideration of Ukraine“ der Universität St. Gallen entstanden sind. Mit Hilfe einer Auswahl von Choroplethenkarten, Karten mit „heat spots“ und dreidimensionalen Karten veranschaulichte Schmid alternative Möglichkeiten, die komplizierte Gemengelage von Ethniztität, Identität und Sprache in der Ukraine zu visualisieren.
Der von intensiven Diskussionen begleiteten Konferenz ist es gelungen, die regionale Vielfalt ukrainischer Geschichte anhand zahlreicher Beispiele deutlich zu machen. Zugleich wurde in einer Vielzahl der Vorträge deutlich, dass regionale Perspektiven oft in einem engen Verhältnis zu nationalen oder proto-nationalen Projekten standen und stehen. Insofern ging es nicht darum, nationale Paradigma radikal zu dekonstruieren, sondern sie mit Blick auf regionale Spezifika und Identitäten zu relativieren. Dabei wurde einmal mehr deutlich, dass das nach wie vor beliebte Ost-West-Modell zur Analyse der Ukraine überholt ist. In der von Jan KUSBER (Mainz) moderierten Abschlussdiskussion wurde außerdem eine Reihe von Forschungsdesideraten benannt, die über Fragen nach Nation und Region hinausgingen. Zu den am wenigsten erforschten Feldern ukrainischer Geschichte zählt insgesamt die Zeit ab 1989, aber auch neuere Beiträge zur frühneuzeitlichen Geschichte der Ukraine sind überschaubar. Außerdem ist die Forschung immer noch stark auf einzelne Städte (etwa Lemberg) oder Themen (der Zweite Weltkrieg, jüdische Geschichte) konzentriert, während z.B. die sowjetische und post-sowjetische Populär- und Konsumkultur in der Ukraine kaum untersucht worden ist. Insofern hat auch diese Konferenz einmal mehr gezeigt, dass die Geschichtswissenschaft unser Wissen zur ukrainischen Geschichte ganz erheblich erweitert hat, aber eine ganze Reihe von Forschungsfeldern immer noch der Bearbeitung harrt.
Tagungsbericht: Mehr als nur Blau-gelb. Region und Nation in der Geschichte der Ukraine, 17.06.2016 – 18.06.2016 Berlin, in: H-Soz-Kult, 24.02.2017.
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