Russland und/als Eurasien
Kulturelle Konfigurationen
Seit den 1990er Jahren hat eine intensive reale und symbolische Aneignung des eurasischen Raums eingesetzt. Sie erfolgt sowohl von Russland als auch vonseiten anderer Großmächte, und ist primär der Marktexpansion sowie geopolitischen und geostrategischen Interessen in einer neuen multipolaren Weltordnung geschuldet. Auch die Osteuropaforschung, die den postsowjetischen Raum jenseits des Ural bis dahin weitgehend ignoriert bzw. als Peripherie behandelt hat, reagiert auf diese Entwicklungen und bezieht nunmehr auch die Region Zentralasien ein. Die bisherigen Forschungsarbeiten zum Raum Eurasien haben sich allerdings in erster Linie auf politik- und sozialwissenschaftliche sowie auf historisch-geographische Fragestellungen konzentriert.
Die Referentinnen und Referenten der 18. Arbeitstagung der Fachgruppe Slavistik wenden sich nunmehr explizit der Frage nach den verschiedenen kulturellen Modellierungen sowohl in Russland als auch in den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu. Neben den ideologischen Positionen nehmen sie Fragen der Ästhetik und der Sprachtheorie, Beispiele aus Literatur und Musik sowie philosophische, mythische und religiös-spirituelle Ideen und Konzepte in den Blick.
Die Tagung wird geleitet von Prof. Dr. Birgit Menzel, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Translations,- Sprach- und Kulturwissenschaft, Arbeitsbereich Russisch und Prof. Dr. Christine Engel, Universität Innsbruck, Institut für Slawistik.
Detaillierte Informationen zum Tagungsverlauf entnehmen Sie bitte dem Programm. Die Konferenzsprachen sind Deutsch, Englisch und Russisch (mit Verdolmetschung der deutschen Beiträge ins Englische).
Veranstaltungsprogramm
Programm (PDF, 90 kB)
Veranstaltungsbericht
In einer multipolaren Welt, in der Russland als Global Player auftritt, bekommt das Konzept Eurasien immer größere Aufmerksamkeit, sei es in Gestalt einer Eurasischen Union, als ‚eurasisches Hinterland’ des postsowjetischen Raums oder als Ideologie des Neo-Eurasismus. Wenig erforscht wurde dieses Raumkonzept bislang in Bezug auf seine kulturellen Konfigurationen. Auf der internationalen Tagung der DGO-Fachgruppe Slavistik, die im Oktober 2016 an der Europäischen Akademie in Berlin stattfand, lag der Schwerpunkt auf den ambivalenten russisch-asiatischen Beziehungen und auf deren kulturellen Dimensionen. Wissenschaftler aus dem europäischen und dem russischen Sprachraum diskutierten anhand von konkreten Fallbeispielen die Modellierung des eurasischen Raums, Probleme der Mythenschöpfung eines imperialen Russlands, wozu nicht zuletzt die Um- und Neubewertung der Tatarenherrschaft gehört.
Mark BASSIN (Södertörn) verfolgte die Entwicklung der Ideologie des Eurasismus beginnend mit den 1920er Jahren und Nikolaj Trubeckojs Ideen eines multinationalen Russland-Eurasiens als einem überlegenen Gegenspieler zum europäischen Westen. Dessen Ideen griff dann Lev Gumilev auf und arbeitete sie in den 1960er bis 1980er Jahren zur Theorie des Superethnos aus. Der auf Expansion ausgerichtete heutige Neo-Eurasismus – eine Synthese des klassischen Eurasismus und der Werke Gumilevs – bringt den wesentlichen Punkt dieser Ideologien zum Ausdruck: die physisch-geographische Einheit Eurasiens soll als Grundlage für weitreichende politische und kulturelle Schlussfolgerungen dienen. Den Zusammenhang dieser Ideen mit der Ideologie des Kontinentalismus unterstrich Mikhail SUSLOV (Uppsala) und bemerkte kritisch: Wenn Russlands Politik sich an der klassischen Geopolitik orientiere und den Raum eines Kontinents als ideologisches Konzept nutze, um sich als „das Andere“ abzugrenzen, so wende es eigentlich die Waffe der Schwachen an. Anhand des Romans „Tellurija“ (2013) von Vladimir Sorokin führte Dirk UFFELMANN (Passau) aus, dass der (neo-)eurasische Diskurs per se als retrofuturistisch zu betrachten sei und nur mehr als eine Zukunftsvorstellung vergangener Zeiten existieren könne. Dass „Eurasien“ als Alternative zum Westen, bzw. als das bessere Europa aber auch für Künstler, Musiker, Schriftsteller und Philosophen attraktiv sei führte Maria ENGSTRÖM (Dalarna) in ihrem Beitrag aus. „Europa ohne Westen“ und die Hinwendung zu einer klassischen Ästhetik wird dabei als ein revolutionäres Projekt verstanden.
Anna TESSMANN (Heidelberg) erläuterte in ihrem Beitrag, wie Russland heute ein historisches Erbe konstruiert, das sogar in vorhistorische Zeiten ausgreift. Die historischen Ausgrabungen im Naturschutzgebiet „Arkaim“ im Gebiet Tscheljabinsk sind seit den späten 1990er Jahren nicht nur eine wichtige Touristenattraktion, sondern spielen auch im nationalistischen Diskurs eine große Rolle. Dabei ranken sich neben sozial-historischen vor allem esoterische Interpretationen um Arkaim, das als „Ort der Kraft“ und als Stätte der alten Arier, die als Ursprung der weißen Rasse und als Vorfahren der russischen Ethnie gesehen werden. Arkaim wird im nationalistischen Diskurs zum gemeinsam geteilten historisch-kulturellen eurasischen Raum erklärt und soll zur Identitätsbildung beitragen. Auch die massive Umdeutung der Figur Dschingis Khans von einem grausamen Eroberer, wie ihn die traditionelle russische Interpretation sieht, zum edlen, willensstarken Vorbild eines Herrschers im modernen Filmnarrativ zeugt von der Mythenschöpfung Russlands, wie Christine ENGEL (Innsbruck) anhand des Films „Mongol“ (2007) von Sergej Bodrov illustrierte.
Wolfgang EISMANN (Graz) stellte in Übereinstimmung mit seinen Vorrednern fest, dass sich die Sowjetunion als „natürlicher“ Erbe des russischen Imperiums gesehen habe, was die heutige Ideologie eines Aleksandr Dugin nicht nur fortsetze, sondern mit ihrem Expansionsgedanken noch intensiviere. Eismann konzentrierte sich in seinen Ausführungen dabei auf die Frage, welche Rolle der russischen Sprache in diesem ideologischen Konstrukt, das ja einen vielsprachigen Raum betrifft, zukomme. Er zeigte, wie die Idee des Sprachbundes ideologisch überfrachtet wird, indem staatliche Verordnungen das Russische als lingua franca einer „eurasischen Zivilisation“ etablieren sollen. In der Praxis spielt das Russische auch ohne staatliches Zutun eine große Rolle, wie Irina POHLAN (Mainz/Germersheim) dies am Beispiel der Republik Chakassien im Süden Sibiriens zeigen konnte. Sie beschrieb, dass sowohl ethnische Russen als auch ethnische Chakassen sich des Russischen bedienen, da weder die einen noch die anderen über ausreichende Sprachkenntnisse des Chakassischen verfügen. Dessen ungeachtet spielt das Chakassische bei der Identitätsbildung eine große Rolle. Im Sinne eines Ethnoregionalismus wird eine „imagined community“ konstruiert, in der räumliche, ethnische, mythische und ideologische Komponenten eine ständige Bewegung und Neuerfindung der Identität bewirkten. Dass die faktische Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit nicht immer über die Identität und das Schicksal der Mitglieder entscheide, zeigte Birgit MENZEL (Mainz/Germersheim) in ihrem Beitrag über Vasilij Nalimov, einen russischen Mathematiker und Philosophen, der vom finno-ugrischen Volk der Komi in Nordwestrussland stammte. Nalimovs persönliche Unabhängigkeit habe es ihm ermöglicht, sich zwar mit Russland verbunden zu fühlen und auch westliche Haltungen zu teilen, gleichzeitig jedoch stets kritisch zu bleiben.
Wirft man einen genaueren Blick auf die zentralasiatischen Länder Eurasiens und entfernt sich weiter von der Russischen Föderation, so werden die Akzente doch ganz anders gesetzt. So wird zum Beispiel in Tadschikistan deutlich, dass Russland zwar als wichtiger Wirtschaftspartner gelte, wie Chorshanbe GOIBNAZAROV (Duschanbe) ausführte, dass man sich heute jedoch von der Sowjetzeit distanziere, und Moskau lediglich eine weit entfernte Stadt sei. In Tadschikistan gehe es heute darum, mit Hilfe traditioneller kultureller und religiöser Praktiken wie sie zum Beispiel in der Musik gepflegt werden, einer neuen, eigenständigen Staatsideologie zu folgen. In Usbekistan lasse sich eine ähnliche Tendenz erkennen, wie Sergej ABASHIN (Sankt Petersburg) berichtete: Hier bediene man sich einer besonderen Erinnerungspolitik, um einen nationalen usbekischen, unabhängigen Staat zu konstruieren. Durch die Umschreibung der sowjetischen Geschichte und ein neu konstruiertes historisches Narrativ sollen den Bürgern Usbekistans in eigens dafür eingerichteten Museen die Unterdrückung und der Genozid während der sowjetischen Herrschaft in Erinnerung gerufen werden. In Kasachstan hingegen sucht der Künstler Erbossin Meldibekov eigene Wege des Umgangs mit der sowjetischen Vergangenheit, wie Elena TRUBINA (Jekaterinburg) feststellte: Meldibekov begnüge sich in seinen Werken nicht damit, die Lenin-Monumente durch solche nationaler Helden zu ersetzen, sondern arbeite mit den verschiedenen Schichten des kollektiven Gedächtnisses.
Russlands Lage zwischen Europa und Asien und die daraus abgeleiteten Ansprüche und Probleme wurden auf der Konferenz im Hinblick auf geopolitische und politische, ethnische und nationale, kulturelle und spirituelle Aspekte diskutiert. Die doppelte Perspektivierung – der Blick Russlands auf diesen Raum und der Blick aus dem eurasischen Raum auf Russland – bot zusätzliche, interessante Einblicke. Die Konferenzsprachen waren Deutsch, Englisch und Russisch, was Dank der Simultandolmetscherinnen die Grundlage für einen lebhaften Gedankenaustausch war.
Bericht: Veronika Usova
Fotos: DGO/Svystovych
Veranstaltungsbericht (PDF, 288 kB)