Self-Positioning of Eastern European Societies in Global Relations

Conceptions of Space and Self-Presentations in School Textbooks

Im Zentrum der Tagung steht die Frage nach der unterschiedlichen Selbstpositionierung ostmittel- und osteuropäischer Staaten als Bestandteil nationaler und kollektiver Identitäten im europäischen und im globalen Kontext. Als Quelle dieser Eigenverortung dienen Schulbücher der Geschichte, Geografie und politischen Gemeinschaftskunde. Die Tagung wird von der DGO gemeinsam mit dem Leibniz-WissenschaftsCampus „Eastern Europe – Global Area“ und weiteren Kooperationspartnern ausgerichtet.

Informationen zum Tagungsverlauf sowie zu den Tagungsorten entnehmen Sie bitte dem Tagungsprogramm.

Wir bitten um Anmeldung bis zum 25. Oktober 2017: Aktivieren Sie JavaScript, um diesen Inhalt anzuzeigen. oder Aktivieren Sie JavaScript, um diesen Inhalt anzuzeigen..

 

Veranstaltungsprogramm

Tagungsprogramm (PDF, 183 kB)


Veranstaltungsbericht

Bericht: Dorota Kusiak (Universität Leipzig)

Mit dem Zerfall der Sowjetunion war für die Nachfolgestaaten und Länder aus dem sowjetischen Einflussbereich neben der politischen und wirtschaftlichen auch eine gesellschaftliche Neuorientierung verbunden. Dieser Prozess wurde und wird von verschiedenen Aspekten beeinflusst und verläuft in jedem Staat anders. Ein wichtige Rolle bei der Vermittlung der Neuinterpretation der eigenen Geschichte kommt den Schulbüchern zu: Als Informationsquelle für die junge Generation haben sie einen großen Anteil an der Identitätsbildung. Sie eignen sich daher sehr gut als Untersuchungsgegenstand für die Frage, wie sich Gesellschaften (neu) positionieren.

In Russland gibt es seit 2013 auf Initiative der Regierung vereinheitlichte Lehrbücher für das Fach Geschichte. Dies sei Teil des Vorhabens, so Nikolaus KATZER (Moskau), die nationale Souveränität zu konsolidieren. Verbunden mit vereinheitlichten Lehrbüchern sei die Gefahr der Manipulation, Fälschung und Umdeutung von Geschichte. Leitmotive der neuen Geschichtsschreibung in Russland seien das Desinteresse am Westen sowie das Streben nach wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit globalen Akteuren wie China. Deutlich werde bei der Lektüre auch, so Katzer, das imperialistische Selbstverständnis Russlands. Augenfällig werden die Unterschiede in der Interpretation historischer Ereignisse bei der Entwicklung des deutsch-russischen Geschichtsbuchs, ein Projekt der „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“. Kontroverse Themen seien z. B. die Schlacht von Stalingrad oder der Molotow-Ribbentrop-Pakt.

Als einen besonderen Indikator für die Selbstpositionierung im globalen Kontext stellt Stephanie ZLOCH (Braunschweig) den Aspekt der Migration in Schulbüchern vor. Als Beispiele nennt sie Polen, Tschechien und Russland – Länder, die in der jüngeren Vergangenheit einen jüngeren und unternehmerischen Teil der Gesellschaft verloren haben. Polnische Geografie-Lehrbücher konzentrieren sich auf wirtschaftliche und familiäre Gründe für Migration. Im Bereich der Einwanderung wird Polen als ein Transitland für Migranten aus dem Osten dargestellt. In den von Zloch diskutierten Lehrbüchern sei die Integration der Migranten kein Thema. Ein ähnlicher Befund ergebe sich bei den tschechischen Lehrbüchern: Auch dieses Land verstehe sich als ein Transitland. Im Gegensatz dazu stelle sich Russland als multiethnischer Staat und als stabilisierender Anker, bzw. als Zufluchtsort für Flüchtlinge aus den Konflikt- und Kriegsgebieten im postsowjetischen Raum dar. Die Diaspora spiele eine bedeutende Rolle in polnischen und russischen Lehrbüchern. Die russische Diaspora sei immer noch stark mit den russischen Werten verbunden genau wie die Polonia, die Verbindungen zu ihrem Heimatland, polnischen Traditionen und Sprache pflege.

Tamás HARDI und Andrea MIKLOSNÉ-ZADAR (Budapest) stellten die Ergebnisse einer Umfrage zur Selbst- und Fremdwahrnehmung von Gesellschaften vor. Es gebe drei typische Möglichkeiten der Positionierung: erstens die Tendenz, die eigene Makroregion im Westen zu verorten. Dies sei die ausschließende oder sogenannte Go-West-Methode, die mit einer Abgrenzung von den östlichen Nachbarn einhergehe. Im zweiten Ansatz, der Flucht aus dem Osten bzw. dem sich durch Flucht vergrößernden Mitteleuropa, sei Mitteleuropa ein ideologisches Phänomen, das in der Zeit des Regimewechsels verwurzelt ist. In diesem Fall bestritten die Befragten, dass sie zu Osteuropa und / oder dem Balkan gehörten. Die dritte Art der Positionierung sei Hardi und Miklosné-Zadar zufolge von Ablehnung und Ernüchterung charakterisiert, die Befragten fühlten sich zu einer kleineren Region zugehörig. Beispiele dafür seien etwa das ungarische „Karpatenbecken“ als Ort der Positionierung oder die Renaissance der Balkanidentität in Serbien. Als allgemeine Tendenz sei zu beobachten, dass die Staaten nach dem Regimewechsel versuchten, sich im internationalen Kontext als nicht-östlich zu definieren.

Zu diesen Ländern gehörten auch Polen, Belarus, die Ukraine und Litauen, so Rune BRANDT-LARSEN (Lund). Im Gegensatz zu Hardi und Miklosné-Zadar definiert Larsen den Prozess der Nationenbildung und der Etablierung eines nationalen Gemeinschaftsbildes durch das Zusammengehörigkeitsgefühl. Als Indiz dafür führt er eine große Anzahl von Begriffen wie „wir“ oder Äußerungen wie „unsere Liebe zum heimischen Boden“ an. In der Regel handele es sich dabei um lokale Fokussierung, manchmal aber auch um imperiale Aspekte. Alle vier Länder positionierten sich als Teil Europas, ihr Verständnis davon unterscheide sich jedoch. Larsen setzt beispielsweise das belarussische Bild von Europa als geographischem Ort ohne Erwähnung europäischer Werte in Kontrast zum litauischen Europabild, in dem er seit dem Systemwechsel eine Verschiebung von „Macht und Eroberung“ zu „Frieden und Toleranz“ erkennt.

Mit dem Fallbeispiel Rumänien setzte sich Péter BAGOLY SIMO (Berlin) auseinander. In rumänischen Schulen sei die nationale Identität ein wesentlicher Bestandteil des Unterrichts: Kulturelle Artefakte würden diskutiert, der Unterricht finde nur in rumänischer Sprache statt, es gebe keine Lehrer, die Angehörige einer Minderheit sind. Bagoly Simo zufolge entwickelten die Rumänen zunehmend eine mitteleuropäische Identität. Mithilfe der mathematischen Geographie etwa solle bewiesen werden, dass das Land im Zentrum des Kontinents liegt. Mangelnde Argumentation, Betonung von Faktenwissen, neo-nationalistische Diskurse sowie Reproduktion des Wissens als Ziel seien kennzeichnend für den Schulunterricht. Interessant sei der Wandel in der Aufmerksamkeit, die Russland in rumänischen Schulbüchern erfahre: In den 80er Jahren machten Russland und Asien ein Drittel des Inhalts der Bücher aus, der Anteil erhöhte sich in den 90er Jahren infolge unklarer Strukturen nach dem Regimewechsel. Die 2000er Jahre hätten eine Neupositionierung gebracht: Russland habe an Aufmerksamkeit verloren, Europa sei jetzt die wichtigste räumliche Einheit.

Ein Beispiel für die gemeinsame Selbstdarstellung mehrerer Länder ist die Makroregion „Unterer Donauraum“, ein vielversprechendes Bindeglied für grenzüberschreitende Beziehungen, so Volodymyr POLTORAK (Odessa). Die Kultur und Geschichte dieses Raumes werden in den nationalen Programmen zur Geschichte der Ukraine, Moldawiens, Rumäniens, Bulgariens und Russlands vorgestellt. Die Region werde jedoch nur episodisch erwähnt und Menschen aus Ländern dieser Region erhielten oft keine Informationen über ihre Nachbarn. Die nach wie vor bestehende Dominanz der nationalen Geschichtsschreibung führe Poltorak zufolge zu Spannungen zwischen den benachbarten Ländern. So werde etwa der „Untere Donauraum“ in rumänischen Lehrbüchern als das Kernland von Großrumänien gezeigt. Im Sinne des europäischen Integrationsprozesses plädierte Poltorak für die Nutzung von grenzüberschreitenden Materialien und eine Verschiebung von ethnischen zu allgemein zivilisatorischen Aspekten der Geschichte.

Svitlana POTAPENKO (Kiew) ging in ihrem Vortrag auf die Darstellung von historischen Ereignissen und Personen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert ein. Dieser Teil der ukrainischen Geschichte, in dem Kosaken den ukrainischen Schülern als historische Protagonisten dargestellt werden und der das Forschungsgebiet von Potapenko ist, wird in den Lehrbüchern als reich an Helden und wichtigen Ereignissen gezeichnet – ein Beispiel selbstloser Liebe zur Heimat, der Tapferkeit und des Respekts für verdiente Krieger. Die Biografien der präsentierten Persönlichkeiten seien idealisiert und romantisiert. Ziel sei, so Potapenko, dass die Schüler die Kosaken als Helden verehren und stolz sind auf die Vergangenheit ihres Vaterlandes. Der ständige Fokus auf die nationale Identität diene als Schutzmechanismus der ukrainischen Nation in der globalisierten Welt.

Ungarn hat in den letzten Jahrzehnten viele unterschiedliche Raumkonzepte entwickelt. Péter BALOGH (Budapest) zeigte Beispiele für eine aktive Neupositionierung des Landes im europäischen und globalen Kontext. Die in zahlreichen Lehrbüchern geschilderten Darstellungen widersprechen sich dabei manchmal. So entdeckt Balogh in einigen Quellen die Darstellung Ungarns nach dem Konzept des Turanismus, einer Ideologie, derzufolge Ungarn das Tor nach Osten ist und ein Land mit asiatischen Wurzeln. In anderen Büchern wird das Land wiederum als die Grenze zwischen dem Westlichen und Östlichen Christentum beschrieben. Gleichzeitig werden Begriffe wie ferry country („Fährland“) verwendet, ein Selbstbild von einem Land aufgerieben zwischen dem Osten und dem Westen. Dass die nationalen Aspekte immer noch eine Rolle spielen, exemplifiziert Balogh an einem Geographiebuch aus dem Jahr 2002: Dort seien nur die Namen ungarischer ethnographischer Regionen aufgeführt. Ungarn unterstreiche seine Position als Mikroregion: Es sei vor allem im Karpatenbecken beheimatet, sekundär in Mitteleuropa.

Wie problematisch die Vorstellung vom Raum im Kontext von Nationsbildung und Definition sein kann, stellte Oleksandr ZABIRKO (Münster) am Beispiel der Ukraine vor. Bis zur Unabhängigkeit 1991 war sie ein weißer Fleck auf der Landkarte der europäischen Rechtsgeschichte, ihr Recht ist außerhalb ihrer heutigen Grenzen etabliert worden. Die Autoren mussten die Rechtsgeschichte eines Landes entwerfen, das bis dato nicht als Nationalstaat existierte. Die Neujustierung von Staat und Recht aus national-historischer Perspektive erfolgte unter Zuhilfenahme der Begriffe Staatlichkeit, Volk und Kampf. Staatlichkeit sei dabei nicht der Staat selbst, sondern die Repräsentation von Staat. In diesem Konzept wird die Rechtsgeschichte zur Geschichte der Machtstrukturen. Die Menschen seien der Protagonist der Geschichte, Nation werde als romantisiertes Bild einer personifizierten Entität mit Gefühlen und Zielen dargestellt, charakterisiert durch tragischen Glauben und vorherbestimmtem Sieg. Die Kategorie des Kampfes, so Zabirko, sei synonym für die Reduktion des gesamten sozialen Lebens auf eine Kette von Konfrontationen und Konflikten. Die Hauptdiskrepanz sei der Konflikt zwischen eigenem Recht und ausländischem Recht. Die diskursive Verschiebung zum Thema Europa, das nicht mehr als gelobtes Land, sondern als Ort der Rechtsordnung dargestellt wird, zeigt, wie wichtig die Rechtsgeschichte für die Etablierung der eigenen Position der Ukraine ist. Die Betonung der europäischen Natur des ukrainischen Nationalrechts positioniert das Land einerseits als europäisch, andererseits weist Zabirko auf ein in der Geschichte verwurzeltes Misstrauen gegenüber dem Westen hin. Auch hier griffen die Autoren der Gesetzesbücher auf eine Metapher zurück, um diese Diskrepanz aufzulösen: Sie stellten die Ukraine als eine Brücke zwischen dem Osten und dem Westen dar.

Das Verständnis von Raum und Position muss sich nicht ausschließlich auf den eigenen Staat beziehen. Am Beispiel der bilateralen Schulbücher und ihrer Vorbereitung zeigte Jörg STADELBAUER (Freiburg), dass die Präsentation in Lehrbüchern in der Vergangenheit als eine Raumproduktion verstanden wurde, die der Imaginationskraft der Schüler dienen sollte. Die äußeren Zwänge des Schulunterrichts grenzten diese Funktion jedoch ein. Ein unvollständiges Bild vom jeweils anderen Land werde gezeichnet und vermittelt, so Stadelbauer, verzerrt durch ein jeweils spezifisches Selbstverständnis des eigenen Landes, wie auch durch die Maxime nihil nisi bene: Schüler sollten den Büchern nur Positives über das jeweils andere Land entnehmen.

Welcher Stellenwert kommt den Schulbüchern bei der Neupositionierung von Gesellschaften zu? Kein großer, so die einhellige Meinung der Referenten: Das didaktische Material werde konsumiert, nicht diskutiert. Gedächtnis werde als Label verwendet, ökonomische Aspekte ausgelassen. Die Anwendung von Wissen habe keinen Platz im Lehr- und Lernprozess. Zwar versuchten Regierungen, Geographie und Geschichtsbücher zur Gestaltung von Identitäten zu nutzen, so Bagoly Simo, sie erreichten ihr Ziel jedoch nur teilweise. Woran das liege, ob an den Lehrern, deren Unterrichtstechniken oder externen Aspekten, sei im Einzelfall zu diskutieren.

Gabriele FREITAG (Berlin) erinnerte daran, dass es sich bei den Darstellungen in Geschichtsbüchern um reduzierte Bilder handele und dass sie nicht den Stand der Forschung in den Disziplinen widerspiegelten. Inwieweit die von Wissenschaftlern produzierten Materialien eine Rolle für die Gesellschaft und den Unterricht spielen, sei eine spannende Frage.

Veranstaltungsbericht (PDF, 297 kB)

Datum:
06.11. bis 07.11.2017

Ort:
Sächsische Akademie der Wissenschaften (6.11.) und Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (7.11.)
Leipzig

Sprache(n):
Deutsch und Englisch

Programm:

Tagungsprogramm (PDF, 183 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde