Die gegenwärtige Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen ist auch in Litauen angekommen. Weckt die Ankunft von mehreren hundert Personen aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens und der Ukraine in Litauen Erinnerungen an die eigenen Erfahrungen von Migration, Flucht und Deportation im 20. Jahrhundert? Wie änderte sich der Blick auf das Memelland nach der Flucht der deutschsprachigen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg und durch den deutschen „Erinnerungstourismus“ heute? Wie nimmt ein syrischer Flüchtling von der Universität Aleppo die Gegenwart in der litauischen Hauptstadt wahr? Und wie verarbeitet der in Vilnius, Kiew und Moskau wirkende Dramatiker Marius Ivaškevičius die Erfahrungen von jungen litauischen Migrantinnen und Migranten des 21. Jahrhunderts?
Im Gespräch führen wir Perspektiven aus Kunst und Kulturwissenschaft zusammen und diskutieren, wie wir die Migrationserfahrungen der litauischen Gesellschaft mit den Herausforderungen der europäischen Gegenwart zusammendenken können.
Gespräch
Marius IVAŠKEVIČIUS, Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur, Vilnius
Eva PLUHAŘOVÁ-GRIEGIENÉ, Kunst- und Bildhistorikerin, Berlin
Felix ACKERMANN, Kulturwissenschaftler, Deutsches Historisches Institut Warschau
Moderation
Gabriele FREITAG, Historikerin, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin
Die Veranstaltung findet in Kooperation mit der literarischen Buchhandlung "Der Zauberberg" statt.
Veranstaltungsprogramm (PDF, 305 kB)
von Miriam Katharina Heß, DGO
Flucht und Migration als gesellschaftliche Phänomene sind Themen, die in Europa nicht erst seit der Flüchtlingskrise 2015 von großer Bedeutung sind. Angesichts einer starken Emigration spielt die Migration in Litauen eine besondere Rolle. Mittlerweile hat jeder fünfte Litauer das Land verlassen. Bei einer Einwohnerzahl von 2,9 Millionen Menschen wird das Spannungsverhältnis von Emigration und Immigration in Litauen daher besonders sichtbar. Über die Gegenwart von Flucht und Migration in Litauen und die Perspektiven von Migranten, Flüchtlingen und Vertriebenen diskutierten der litauische Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur Marius Ivaškevičius, die Kunst- und Bildhistorikerin Eva Pluhařová-Griegienė und der Kulturwissenschaftler Felix Ackermann unter der Moderation von Gabriele Freitag.
Pluhařová-Griegienė wies eingangs darauf hin, mit welcher Intensität Fotos unser Bild von Migration und Flucht formen und prägen. Auch für Emigranten und Flüchtlinge erfüllen Fotos und andere Abbildungen eine wichtige Funktion, indem sie die Erinnerung an die Heimat visualisieren. Oftmals, so Pluhařová-Griegienė, entstehe dabei ein Bild von der Heimat, das mit der Realität nicht mehr viel gemein habe: Emigranten schufen sich unter Rückgriff auf Bilder ihrer Heimat eine idealisierte Erinnerung und somit eine Art von Orientierung im Exil. Dies zeigte Pluhařová-Griegienė exemplarisch an der Bedeutung der Kurischen Nehrung. Die in Litauen lebenden Menschen haben zumeist keinen starken Bezug zu dieser Region im alltäglichen Leben, während hingegen Litauer im Exil eine intensive Identifizierung zu dieser Region aufgebaut hätten.
Ivaškevičius gab zu bedenken, dass durch die steigende Mobilität vor allem innerhalb Europas die „alte“ und „neue“ Heimat gar nicht mehr so sehr voneinander abgekoppelt seien. Auch größere Entfernungen könnten heutzutage viel schneller und einfacher überwunden werden als dies früher der Fall gewesen sei. Die Auswirkungen von Migration auf Entwicklung und Bestehen einer Gesellschaft machen sich insbesondere bei kleinen Völkern schnell bemerkbar. Die Litauer, so Ackermann, fürchteten die „Überfremdung“ ihres Landes und sorgten sich um den Fortbestand ihrer Sprache und Kultur. Den in Litauen lebenden Russen begegneten sie mit besonderem Argwohn, zumal jene unter dem Einfluss russischer Propaganda stünden. Seit Beginn der Flüchtlingswelle 2015 seien knapp 500 Personen aus dem Nahen Osten nach Litauen gekommen, von denen mehr als zwei Drittel das Land bereits wieder verlassen hätten. Diese vergleichsweise geringe Zahl lasse die Angst vor fremden kulturellen Einflüssen irrational erscheinen. Diese sei wohl vor allem auch durch die von den Medien verbreiteten Bilder geschürt worden. Ein Vergleich der Situation heutiger Geflüchteter mit der Situation der Litauer, die im vergangenen Jahrhundert aus dem eigenen Land fliehen mussten, finde nicht statt.
Dass ein Land mit einer hohen Emigrationsrate gleichzeitig auf Einwanderung angewiesen ist, wenn es die Wahrung bestehender Strukturen sichern will, ist eine Tatsache, die auch die Litauer anerkennen müssen. Gerade im Niedriglohnsektor seien vor allem Zuwanderer beschäftigt. Trotzdem werde auch die Zuwanderung aus dem weitgehend russischsprachigen Belarus eher mit Besorgnis wahrgenommen. Ivaškevičius plädierte dafür, die Migration als eine Art menschlichen Kreislauf zu verstehen, der zum Fortbestand einer Gesellschaft beitrage. So brauche Litauen die Immigration als Gegenstück zur Emigration, um etwa das Funktionieren von Verwaltung und Infrastruktur zu gewährleisten.
Veranstaltungsbericht (PDF, 283 kB)
Datum:
31.05.2018, 20:00 Uhr
Ort:
Der Zauberberg
Buchhandlung
Bundesallee 133
12161 Berlin
Sprache(n):
Deutsch und Englisch
Eintritt:
5 Euro
Veranstaltungsprogramm (PDF, 305 kB)
Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde