Proteste in Russland.
Motivation, Mobilisierung und Macht.
In Russland gehen die Menschen wieder auf die Straße. Die Kommunal- und Regionalwahlen im Sommer waren begleitet von wöchentlichen Großdemonstrationen gegen den Ausschluss oppositioneller Kandidat*innen. Und die Proteste laufen weiter. Gerade Moskau erlebt nach der Protestbewegung der Jahre 2011 und 2012 eine neue Welle des friedlichen Widerstands gegen die staatliche Politik – und seine gewaltsame Unterdrückung.
Der vermeintlichen politischen Stabilität zum Trotz gehören öffentliche Protestaktionen schon lange zum russischen Alltag. Neben den sozialen Protesten gegen die Rentenreformen richten sich die Demonstrationen derzeit vor allem gegen die Bebauung von Naturgebieten oder die Müllentsorgung außerhalb der Großstädte.
Die Diskutant*innen werfen einen Blick auf die unterschiedlichen Protestaktionen: Wie weit entwickeln sich aus den Protesten gegen unmittelbare Missstände auch Forderungen nach größerer gesellschaftlicher Partizipation und politischem Wandel? Inwieweit erreichen sie die Regionen und verschiedenen sozialen Milieus? Und welche Antworten haben Staat und Politik darauf?
BEGRÜSSUNG:
Olaf KÜHL, Senatskanzlei Berlin
Stefan MELLE, DRA e.V., Berlin
PODIUM:
Ella PANEYAKH, Higher School of Economics, St. Petersburg
Denis VOLKOV, Levada-Zentrum, Moskau
MODERATION:
Gabriele FREITAG, DGO e.V., Berlin
Die Diskussion findet in deutscher und russischer Sprache mit Simultanübersetzung statt. Nach der Diskussion laden wir Sie ein, das Gespräch bei einem Glas Wein fortzuführen.
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Veranstaltungsprogramm
einladung_rus… (PDF, 248 kB)
Veranstaltungsbericht
von Jean-Marie Bryl, DGO
In Russland gehen die Menschen wieder auf die Straße. Die Kommunal- und Regionalwahlen im Sommer 2019 waren begleitet von wöchentlichen Großdemonstrationen gegen den Ausschluss oppositioneller Kandidatinnen und Kandidaten. Der vermeintlichen politischen Stabilität zum Trotz gehören öffentliche Protestaktionen schon lange zum russischen Alltag. Neben den Protesten gegen das Wahlverfahren richteten sich die Demonstrationen in den letzten Jahren vor allem gegen die Rentenreformen, die Bebauung von Naturgebieten oder die Müllentsorgung außerhalb der Großstädte.
Wie weit entwickeln sich aus den Protesten gegen unmittelbare Missstände auch Forderungen nach größerer gesellschaftlicher Partizipation und politischem Wandel? Inwieweit erreichen sie die Regionen und die verschiedenen sozialen Milieus? Und welche Antworten haben Staat und Politik darauf? Diese Fragen erörterten Ella PANEYAKH, Soziologin und Dozentin an der Higher School of Economics St. Petersburg, und Denis VOLKOV, Soziologe am Levada-Zentrum in Moskau, bei einer Podiumsdiskussion der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und des Deutsch-Russischen Austauschs.
Volkov verwies zunächst auf die Heterogenität der derzeitigen Protestaktionen, die regional von unterschiedlichen sozialen Strömungen mit jeweils unterschiedlichen Motiven sowie Zielen getragen werden. Zwar dominierten in der Regel weiterhin junge Männer die Proteste, trotzdem sei in den letzten Jahren eine Transformation der russischen Zivilgesellschaft zu beobachten: Lokale Gemeinschaften führen nicht nur zunehmend politische Diskussionen, sondern tragen kontroverse Standpunkte auch in die breitere Öffentlichkeit. Dem stimmte auch Paneyakh zu und ergänzte, dass mithilfe der Protesterfahrungen regierungskritische Stimmen ihre Fähigkeit zur Koordination und Mobilisierung von sozialen Bewegungen nachhaltig verbessern konnten. Für Volkov besteht wenig Zweifel, dass die von der Regierung geplante Rentenreform sowie die ökonomischen Probleme infolge der Krim-Annexion wesentliche Faktoren für den Unmut in der Bevölkerung darstellten; allerdings seien die Ansprüche der Menschen an die Regierung gleichzeitig größer geworden.
Auf die Frage nach Kanälen für einen Dialog zwischen der Regierung und den Protestierenden wies Paneyakh darauf hin, dass die Regierung fundamentale Feedbackmechanismen schon vor den jüngsten Protesten zerstört habe. Anstelle einer möglichen Offenheit gegenüber den Protestierenden vertraue die russische Regierung eher auf die vertikale Machtteilung innerhalb des regierungsloyalen Rechtssystems. Folglich würden zunehmend mehr Gerichtsverfahren gegen oppositionell Aktive aufgenommen. Zwar versuche die russische Regierung, Regierungskritikerinnen und -kritiker auch mit finanziellen Mitteln zur politischen Zurückhaltung zu bewegen, primäres Repressionsmittel bleibt jedoch die Einschüchterung durch Festnahmen. Zudem seien auch die Zustimmungswerte für die Regierungspartei Einiges Russland, so Volkov, in den letzten Monaten wieder gewachsen. Die Regierung sehe daher keinen grundlegenden Bedarf, ihr Verhalten zu ändern.
Neu sei jedoch, so Paneyakh, ein zeitweiliges Gefühl von Einheit und Vertrauen unter den Protestierenden. Sie deutete dies ironischerweise als Folge eines allgemein gestärkten Nationalgefühls infolge der Annexion der Krim. Nichtsdestoweniger kann nach Volkov nicht von einer professionell organisierten solidarischen Hilfe zwischen den einzelnen regionalen Protestgruppen gesprochen werden. Eine Ausnahme bildeten lediglich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Forschungsinstitutionen.
Paneyakh und Volkov waren sich auf Nachfrage aus dem Publikum darin einig, dass trotz der russlandweiten Bekanntheit des Aktivisten Alexei Navalny dieser nicht als Vorbote für eine neue, die derzeitige Regierung ablösende Opposition gewertet werden könne. Dazu stünde er in einer zu starken Konkurrenz zu den bestehenden Parteien der Kommunisten sowie Ultranationalisten. Außerdem stehe die russische Bevölkerung tiefgreifenden, revolutionären Veränderungen aus historischen Erfahrungen heraus skeptisch gegenüber.
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