Die Zukunft der Ostrechtsforschung
Das Fachgespräch ist als digitale Veranstaltung geplant. Eine vorherige Anmeldung bis zum 3. November 2020 ist notwendig
Die Bedingungen der Ostrechtswissenschaft haben sich nach 1989/90 grundlegend verändert und verändern sich weiter. Was sich zunächst als ein Aufholen der Staaten im östlichen Europa darstellte, wandelt sich auch zu einer Gegenbewegung, einer Herausforderung der „westeuropäischen“ politischen Systeme und Strukturen.
Welche dieser Entwicklungen haben ihre Wurzeln in den spezifischen Eigenheiten der Region, welche sind Teil globaler Trends? Wie wirkt sich das auf die europäische und globale Entwicklung aus? Regional orientierte vergleichende Rechtswissenschaft kann einen Beitrag leisten, diese Fragen zu klären.
Mittlerweile scheint das „Ostrecht“ aus dem Kanon der akademischen Fächer zu verschwinden, wo es in der Nachkriegszeit seinen Platz (als „Orchidee“) hatte. Gleichzeitig hat in der „Ostrechtswissenschaft“ seit 1990 ein Generationenwechsel stattgefunden. Obwohl der Zugang zu Informationen aus den Ländern Osteuropas direkter geworden ist und persönlicher Austausch stattfindet, schwindet die institutionalisierte Ostrechtskompetenz in Deutschland zusehends. So sind juristische Promotionen unter dezidiert regionalwissenschaftlicher Anleitung in Deutschland nur noch an wenigen Orten mittelfristig gesichert.
Das Fachgespräch dient dem Nachdenken über den Status quo und die Zukunft des eigenen Tätigkeitsfeldes. Dies soll zunächst durch Selbstreflexion der Mitglieder der Fachgruppe Recht erfolgen. Perspektivisch sollen Kolleginnen und Kollegen aus anderen Tätigkeitsfeldern und aus dem Ausland eine Außensicht liefern und Wünsche und Erwartungen formulieren. Wünschenswert ist auch eine Diskussion mit den politisch Verantwortlichen zu den Bedürfnissen der Politik einerseits und zur Notwendigkeit einer weiteren (intensiveren) Förderung der Ostrechtswissenschaft andererseits.
Veranstaltungsprogramm
dgo_fachgespr… (PDF, 472 kB)
Veranstaltungsbericht
Bericht: Burkhard Breig
Anstelle einer regulären Jahrestagung veranstaltete die Fachgruppe Recht am 6. November 2020 ein Online-Fachgespräch zu Stand und Zukunft der Ostrechtsforschung. Ziel war es, möglichst viele unterschiedliche Beteiligte in Kontakt und Austausch über Stand und Perspektiven der Erforschung der Rechtsordnungen Osteuropas im deutschsprachigen Raum zu bringen. Die Veranstaltung war gegliedert in drei „Foren“ unter den Titeln „Aktueller Stand der Ostrechtsforschung“, „Inhaltliche Ausrichtung der Ostrechtswissenschaft“ und „Was gilt es zu tun?“ Die lebhaften Diskussionen in den drei Foren wurden eingeleitet durch kurze Beiträge von insgesamt 14 Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft und unterschiedlichen Bereichen der juristischen Praxis.
Im ersten Forum erörterten die Teilnehmenden die strukturellen Veränderungen der akademischen Erforschung der Rechtsordnungen Osteuropas im deutschsprachigen Raum, aber auch die Bedeutung dieser Region in der juristischen Praxis – von der alltäglichen Arbeit in der Vertragsgestaltung bis hin zu den europäischen Institutionen. Das „Ostrecht“ ist eine Kategorie, die im deutschsprachigen Raum – in Deutschland anscheinend noch mehr als in Österreich – mehr und mehr aus Denominationen von Lehrstühlen und Bezeichnungen von Instituten verschwindet. Gleichzeitig ist ein anhaltend großes Interesse an osteuropäischen Themen in Praxis und Wissenschaft zu verzeichnen. Viel praktisch orientierte Rechtsvergleichung findet in den europäischen Institutionen statt. Obwohl diese formal keinen Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa machen, scheinen fortbestehende Differenzen weiterhin auch in offiziellen Texten subtil durch, wenn etwa im aktuellen Rechtsstaatsbericht der Europäischen Kommission die Rede ist von „Mitgliedstaaten, in denen traditionell die Unabhängigkeit der Justiz als hoch oder sogar sehr hoch gilt“ (aus dem Referat von A.Nußberger). Mehrere Beiträge betonten den Bedarf nach Vernetzung zwischen wissenschaftlich Tätigen unterschiedlicher Richtungen, zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen juristisch Tätigen aus Ost und West, aber auch weltweit, etwa in den Weltverbänden für Osteuropastudien oder für Verfassungsrecht. Deutlich wurde auch, dass sich Ost- und Westeuropa heute in ganz anderer Weise auch durch biographische Wege und professionelle Werdegänge verbinden, als dies zu Zeiten des „Ostrechts“ möglich war.
Das zweite Forum wurde eingeleitet durch Beiträge zum öffentlichen Recht, Zivilrecht und Strafrecht sowie zu Osteuropa in der EU und Gesichtspunkten aus der Praxis. Unterschiedliche Publikationsvorhaben wurden vorgestellt und Forschungsstrategien erörtert. Erwähnt wurden Querschnittsdarstellungen zur Verfassung oder sogar zur gesamten Rechtsordnung einzelner Länder, aber auch die dogmatische Arbeit an Einzelfragen und das Bestreben um thematische und regionale Ausgewogenheit. Einig waren sich Stimmen aus Wissenschaft und Rechtspraxis darüber, dass Rechtsvergleichung und Kooperation einander bedingen – auch wenn heute Informationen zu nationalen Rechtsordnungen in nie dagewesenem Umfang verfügbar seien, lasse sich die fremde Rechtsordnung nicht vollwertig ohne intensiven Austausch mit dem betreffenden Land einschließlich seiner Kultur und Sprache erkennen. Deutlich wurde dabei auch, wie vielfältig die Kontakte zwischen Ost und West heute sind; gleichzeitig war die weitere Vernetzung der verschiedenen Initiativen eines der am häufigsten formulierten Anliegen. Verbindungen zu Fragestellungen aus der allgemeinen Rechtsvergleichung wurden sichtbar in Diskussionsbeiträgen zum Sinn von Rechtsvergleichung und zur Vernetzung von Theorie und Praxis, die sich im Recht auf spezifische Weise begegnen und bedingen. So nötige die privatrechtliche Rechtsgestaltung und Streitbeilegung immer wieder dazu, neben aufgeworfenen Sonderfragen das Verhältnis von Parteiautonomie und zwingendem Recht, Gesetzbuch und Sondergesetz, Form und Inhalt des Rechtsgeschäfts neu zu überdenken und abzuwägen. Über das Zivilrecht hinaus betrafen mehrere Beiträge die Rolle allgemeiner Formanden des Rechtslebens in den postsozialistischen Staaten Osteuropas und auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Besonderheiten dieses Raums zeigten sich nicht nur im Staatsrecht, sondern auch in anderen, eher technischen Bereichen wie der – in der EU dem Normtext nach weitgehend harmonisierten – Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen (dem Thema ist das Heft 1/2020 der Zeitschrift Osteuropa-Recht gewidmet). Mehrfach wurde auch geäußert, wie dringend der Bedarf in der Praxis nach systematisierenden Untersuchungen zu konkreten rechtlichen Fragen sei. Besonders erwähnt wurden die Absetzbewegungen, die vor allem in Polen, Ungarn und Russland augenfällig sind – der Westen tue gut daran, die Entwicklungen genau im Auge zu behalten, schon wegen der Wechselwirkungen über die europäischen Institutionen. Große Bedeutung habe der postsowjetische Raum als eigener „Gegenstand“ nicht nur aus der Außensicht, sondern auch aus Sicht Russlands (und wohl auch der anderen Länder dieses Raums). Es wurde auch konstatiert, dass bis heute osteuropäische Juristinnen und Juristen in gesamteuropäischen Forschungsprojekten unterrepräsentiert seien und sich für sie daher in diesem Feld auch besondere Chancen eröffneten.
Im dritten Forum ging es um die Zukunft der osteuropagerichteten Rechtsvergleichung. Vielfach und in unterschiedlichen Schattierungen ging es um die Berechtigung von „Rechtsexport“ – jedenfalls kann es nicht vor allem um die Werbung für konkrete Vorschriften oder gar um „Belehrung“ gehen, sondern Neugier und gegenseitiges Interesse sind Grundvoraussetzungen für Rezeption, was die gemeinsame Arbeit an der Suche nach gemeinsamen Grundlagen nicht ausschließt, sondern geradezu voraussetzt, so schien es letztlich Konsens zu sein. In solcher Vermittlung zwischen unterschiedlichen Traditionen und Kulturräumen liegt wohl ein wesentlicher Beitrag, den nach Osteuropa gerichtete Rechtsforschung im deutschsprachigen Raum, aber auch „Westrechtsforschung“ in den Ländern Osteuropas zur Rechtsentwicklung leisten können. Rechtsvergleichend Tätige können sich auch bemühen, an der Rechtsentwicklung in den Ländern, die sie erforschen, beratend teilzunehmen und dort auch zu publizieren. In den kommenden Jahren werde das „Ostrecht“ den Weg der Integration in die allgemeine Rechtsvergleichung fortsetzen und sich dabei auch interdisziplinär öffnen. Neben der Arbeit an praktischen juristischen Lösungen und Forschung gehe es aber auch um Dienstleistung an der Öffentlichkeit. Angesichts der Vielfalt der Aufgaben bestehe kein Grund zur Verzagtheit. Die Finanzierung der Institutionen sei wichtig und setze eine Orientierung an den praktischen Bedürfnissen voraus. Für die Vernetzung, aber auch Kommunikation nach außen kann die DGO eine wichtige Aufgabe wahrnehmen.
Die Veranstaltung vermittelte einen Eindruck von der Breite und Vielfalt der Initiativen auf Osteuropa bezogener Rechtsvergleichung und Rechtspraxis im deutschsprachigen Raum und dem anhaltenden gegenseitigen Interesse zwischen den vielgestaltigen juristischen Gemeinschaften Europas. Das Bedürfnis nach Zusammenarbeit über Ländergrenzen, Berufsfelder und Disziplinen hinweg war ein roter Faden, der die Veranstaltung durchzog. Das Fachgespräch mit über 50 Teilnehmenden aus West- und Osteuropa profitierte von der pandemiebedingten Form insofern, als Personen interagierten, die sonst wohl nicht so zusammengekommen wären. Der Austausch verdeutlichte die Bedeutung der Fachgruppen der DGO und war vielleicht ein kleiner praktischer Beitrag zu einem Dialog der Rechtskulturen, der in seiner Weise an „Methodendiskussionen“ des Ostrechts vergangener Jahre anknüpft.