Kirgisistan nach dem erneuten Umsturz
Zum dritten Mal in 15 Jahren haben Proteste in Kirgisistan zum Rücktritt eines Präsidenten geführt. Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen Anfang Oktober brachten die Menschen auf die Straße. Vor allem junge Demonstrant*innen forderten die vollständige Entmachtung der alten politischen Elite. In dem folgenden gewaltsamen Machtkampf hat sich mit Sadyr Schaparow ein Politiker mit zweifelhafter Vergangenheit und wenig Führungserfahrung als neuer starker Mann durchgesetzt. Dies lässt daran zweifeln, dass er die Korruption und andere Missstände wirklich bekämpfen will. Bei den im Januar anberaumten Präsidentschaftswahlen gilt er dennoch als aussichtsreichster Kandidat. Die Podiumsdiskussion beleuchtet die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Kirgisistan vor dem Hintergrund der bevorstehenden Wahlen und geht auch auf die aktuellen Debatten über eine Verfassungsreform ein.
Diskutantinnen
Beate ESCHMENT
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin
Kishimjan OSMONOVA
Humboldt-Universität zu Berlin
Moderation
Gabriele FREITAG
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), Berlin
Die Veranstaltung ist eine Zusammenarbet mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
Veranstaltungsprogramm
Einladung (PDF, 463 kB)
Veranstaltungsbericht
Bericht: Henri Koblischke
Zum dritten Mal in 15 Jahren haben Proteste in Kirgisistan zum Rücktritt eines Präsidenten geführt. Der Amtsinhaber Sooronbai Dscheenbekow trat Mitte Oktober 2020 infolge von Protesten gegen Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen zu Beginn des Monats zurück. In dem darauffolgenden gewaltsamen Machtkampf hat sich mit Sadyr Schaparow ein Politiker mit zweifelhafter Vergangenheit als neuer starker Mann durchgesetzt. Bei den im Januar anberaumten Präsidentschaftswahlen gilt er als aussichtsreichster Kandidat. Die Zentralasienexpertinnen Beate ESCHMENT vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und Kishimjan OSMONOVA, die an der Humboldt-Universität zu Berlin forscht, beleuchteten die politischen Verhältnisse in Kirgisistan vor dem Hintergrund der bevorstehenden Wahlen und der Verfassungsreform.
Die Ursachen für die Proteste machte Beate Eschment in der Verschlechterung der Lebensbedingungen in Kirgisistan aus, zu denen insbesondere die Corona-Pandemie beigetragen hat. Die Fälschungen der Parlamentswahlen hätten das Fass zum Überlaufen gebracht: „Junge und urbane Menscheln wollen einen Wandel“ resümierte sie. Darin stimmte ihr Kishimjan Osmonova zu. Insbesondere gebildete Menschen demonstrierten gegen die Fälschungen und wurden dabei von der kirgisischen Diaspora unterstützt. Allerdings, fügte sie hinzu, sei die junge Generation keineswegs homogen und auch der zurückgetretene Präsident habe viele Unterstützer. Die zwei wichtigsten Partner Kirgisistans, Russland und China, hätten den Status quo gegenüber einem Machtwechsel durch Druck von der Straße bevorzugt, sagte Eschment, weshalb auch ein Abgesandter des Übergangspräsidenten Schaparow im Kreml nicht empfangen worden sei. Beide Expertinnen waren sich jedoch darin einig, dass externe Akteure keine entscheidende Rolle bei den politischen Umwälzungen gespielt hätten.
Die geplante Verfassungsreform betrachtete Kishimjan Osmonova kritisch. Sie sei zwar ein Ablenkungsmanöver Schaparows, der kein inhaltliches Programm für das Land habe, beinhalte aber einige problematische Punkte. Das bestehende Parlament sei nicht mehr legitim, plane aber trotzdem eine Verfassungsreform, von der niemand wisse, wer sie entworfen habe. Die Verfassungsreform ziele darauf ab, Kirgisistan in ein Präsidialsystem umzuwandeln, welches beträchtliche Macht in der Hand des Präsidenten konzentriere. Zudem solle es eine Art „Parallelparlament“ geben und die freie Meinungsäußerung eingeschränkt werden. Beate Eschment relativierte die Folgen der möglichen Verfassungsreform. Dies sei nicht die erste Verfassungsreform Kirgisistans und auch nicht das erste präsidentielle System des Landes. Die Gefahr, dass die Verfassungsreform zu einer autokratischen Herrschaft führen könne, sei gering. Die Geschichte Kirgisistans zeige, dass es an einem gewissen Punkt zu erneuten Protesten und einem Sturz des Präsidenten kommen werde.
Mediale Interpretationen, wonach der Umsturz ein Zeichen für Demokratisierung sei, verwies Eschment ins Reich der Fabeln: „Das klang viel zu schön um wahr zu sein ─ geradezu perfekt“. Man solle sich nicht täuschen lassen, denn was am Anfang ein legitimer Protest breiter Bevölkerungsschichten gegen Wahlfälschungen gewesen sei, habe sich schnell zum Machtkampf verschiedener politischer Fraktionen entwickelt, bei dem der Akteur mit den schlagkräftigsten Anhängern gewonnen habe. Kirgisistan wirke lediglich demokratisch, weil seine zentralasiatischen Nachbarn so autoritär und der kirgisische Staat zu schwach sei, um die Eliten zu kontrollieren und eine effektive autokratische Herrschaft zu errichten.
Statt Veränderungen stellte Eschment vielmehr Kontinuitäten zu den Rücktritten der Präsidenten Askar Akajew (2005) und Kurmanbek Bakijew (2010) fest. Es gebe lediglich neue Gesichter, aber keinen Systemwandel. Wie bei jedem bisherigen Machtwechsel wiederhole sich auch dieses Mal ein bekanntes Muster: Schlüsselpositionen würden neu besetzt, der Kampf gegen Korruption öffentlich propagiert, aber nicht ernst gemeint und die Verfassung werde reformiert. Optimistische Interpretationen der Ereignisse als „Revolution“ sind nach dieser Interpretation fehl am Platz. Inwiefern sich das als altbekannt betrachtete Muster der kirgisischen jüngeren Geschichte tatsächlich wiederholen wird, bleibt abzuwarten und auf einer zukünftigen Veranstaltung nach den Wahlen im Januar 2021 und der vollzogenen Verfassungsreform zu diskutieren.