Geraubte Ikonen – zerstörte Kirchen
Der Krieg gegen die Sowjetunion und die »Weißen Flecken« in der deutschen Erinnerung
Die Veranstaltung ist eine Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Forum e.V.
Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von deutscher Seite als Ausbeutungs- und Vernichtungskrieg geplant und geführt. Viele Einzelaspekte sind jedoch nach wie vor wenig bekannt. Das ungeheure Ausmaß der Kulturzerstörung und der Kulturgutverluste in der Sowjetunion bildet einen dieser „Weißen Flecken" in der deutschen Erinnerung. Kaum ein Architekturdenkmal überstand die Kriegszeit ohne Schäden. Die Verluste an beweglichen Kulturgütern bezifferte die sowjetische Regierung nach dem Krieg auf über eine Million Gegenstände. Manches kehrte zurück, vieles blieb verschollen. Kommt die Sprache auf Kunstverluste, wird jedoch in Deutschland reflexartig auf die eigenen Kriegsverluste verwiesen. Diskutieren Sie mit den Spezialist*innen aus Russland und Deutschland über die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Kriegsgeschichte in Russland und Deutschland und die Folgen für das gegenseitige Verständnis.
Begrüßung
Gabriele FREITAG, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V.
Diskussion mit
Michail SCHWYDKOJ, Sonderbeauftragter des Präsidenten der RF für internationale kulturelle Zusammenarbeit, Außenministerium der RF
Wolfgang EICHWEDE, Universität Bremen, Gründer und Direktor der Forschungsstelle Osteuropa bis 2008
Corinna KUHR-KOROLEV, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Pawel CHOROSCHILOW, Stellvertretender Kulturminister der RF a.D., Vorstandsmitglied der Russischen Historischen Gesellschaft
Pawel PETROW, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung, The Peterhof State Museum-Reserve
Moderation
Christiane HOFFMANN, Hauptstadtbüro des SPIEGEL
Weiterführende Informationen zur Veranstaltung sowie die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie unter folgendem Link:
Veranstaltungsprogramm
einladung_ger… (PDF, 514 kB)
Veranstaltungsbericht
Bericht: Esther Massier
Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von deutscher Seite als Ausbeutungs- und Vernichtungskrieg geplant und geführt. Viele Einzelaspekte sind jedoch bis heute wenig bekannt. Das Ausmaß der Kulturzerstörung und der Kulturgutverluste in der Sowjetunion bildet einen dieser „Weißen Flecken“ in der deutschen Erinnerung. Kaum ein Architekturdenkmal überstand die Kriegszeit ohne Schäden. Die Verluste an beweglichen Kulturgütern bezifferte die sowjetische Regierung nach dem Krieg auf über eine Million Gegenstände. Manches kehrte zurück, vieles blieb verschollen. Kommt die Sprache auf Kunstverluste, wird jedoch in Deutschland reflexartig auf die eigenen Kriegsverluste verwiesen.
Ehemalige Beteiligte der Restitutionsverhandlungen diskutierten mit Fachleuten aus der Wissenschaft über die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Kriegsgeschichte in Russland und Deutschland und über die Folgen für das gegenseitige Verständnis. Die deutsch-russische Diskussion fand in der Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche statt –, selbst ein symbolträchtiger Ort für Raub und Zerstörung während des Zweiten Weltkriegs.
Die Moderatorin des Abends, Christiane HOFFMANN vom Hauptstadtbüro DER SPIEGEL legte in ihrer Einführung ein besonderes Augenmerk auf die einseitige Erinnerung an den Kunstraub im Zweiten Weltkrieg. Während in deutscher Erinnerung die durch die Rote Armee geraubte „Beutekunst“ gut bekannt sei, spiele die systematische Zerstörung von Kulturgütern in der Sowjetunion durch das nationalsozialistische Deutschland bis heute in der deutschen Erinnerung kaum eine Rolle. Generell sei die Erinnerung an den Krieg in Russland bis heute wesentlich präsenter als in Deutschland.
Wolfgang EICHWEDE, Gründer der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, griff in seinen Ausführungen diesen Aspekt auf und betonte die Notwendigkeit, sich von der Konzentration auf die eigenen Verluste zu lösen. Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass die Folgen des NS-Kunstraubs nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Staaten wie Belarus und der Ukraine bis heute schmerzhaft spürbar seien. Auf deutscher Seite habe es nach der Wiedervereinigung keine Sensibilität für die eigene Verantwortung gegeben. Wichtig sei es aber vor allem, auf die Gegenseitigkeit des Raubs und auf die Zerstörung von Kunst als kriegspolitisches Instrument aufmerksam zu machen. Kunstgüter sollten heute nicht als Kriegsbeute, sondern als Botschafter der Versöhnung gesehen werden.
Die Systematik der Zerstörung russischer Kultur durch die NS-Ideologie betonte Michail SCHWYDKOI, ehemaliger Kulturminister und heutiger Sonderbeauftragter des Präsidenten der Russischen Föderation für internationale kulturelle Zusammenarbeit. Ziel der NS-Ideologie sei es gewesen, den slawischen Völkern ihre nationale Identität und ihr historisches Gedächtnis zu rauben. Im Gegensatz dazu ließen sich die Raubzüge der Roten Armee als Reparationszahlungen betrachten. Die Vernichtung der Völker der UdSSR sei nicht nur physischer Natur gewesen, sondern habe auf die Ausrottung jeglicher Vorstellung vom Leben in der Sowjetunion abgezielt. Ende der 90iger Jahre habe er, so Schwydkoj, auf ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok gehofft, heute fehle hierfür, und damit auch für den Austausch von Kunst- und Kulturgütern, das gegenseitige Vertrauen.
Eine Einigung auf kultureller Eben sei momentan nicht möglich, so auch Pawel CHOROSCHILOW, ehemaliger stellevertretender Kulturminister der Russischen Föderation. Die Verhandlungen über den Austausch geraubter Kunst- und Kulturgüter hätte konstruktiver gestaltet werden können, Fehler seien auf beiden Seiten gemacht worden und die heute unterbrochene Kommunikation sei schmerzhaft für beide Länder.
Pawel PETROW, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Museen in Peterhof berichtete über die umfassende Zerstörung der Schlossanlage Peterhof, die zweieinhalb Jahre unmittelbar an der Frontlinie lag. Erst seit 2010 seien die Wunden des Krieges nach 65 Jahren Wiederaufbau beseitigt, so Petrow. Das Museum widmete der Kriegsthematik 2019 durch die Veröffentlichung eines Sammelbandes besondere Aufmerksamkeit.
Corinna KUHR-KOROLEV erläuterte die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zum nationalsozialistischen Kunstraub in den Zarenschlössern bei Petersburg, dem damaligen Leningrad. Der Kunstraub müsse im Kontext der gesamten kriegerischen Ausbeutung des Landes gesehen werden. Im Gegensatz zum Mythos von einer generalstabsmäßigen Planung habe es auf deutscher Seite aber kaum Abstimmungen, sondern vornehmlich einen Wettstreit unterschiedlicher Stäbe um das Kulturgut gegeben. Dabei habe der Fokus nicht auf russischer Kunst, sondern hauptsächlich auf Kunst westeuropäischer Herkunft in den Städten Moskau, Petersburg und Kiew gelegen, die anschließend nach Deutschland transportiert wurde. Allerdings seien viele Deutsche von den Kunstschätzen vor Ort überwältigt gewesen.
Erfreulicherweise sind Einzelstücke aus den Zarenschlössern, die von Angehörigen der Wehrmacht und anderer Einsatzstäbe geraubt wurden, in den letzten Jahren von Nachfahren der Täter zurückgegeben worden. Auf zwischenstaatlicher Ebene sind solche Restitutionen momentan nicht denkbar. Für zukünftige Verhandlungen über die Rückführungen von Kunst- und Kulturgütern müssten die Verluste beider Seiten anerkannt und Vertrauen aufgebaut werden, so die Teilnehmenden der Diskussion.