Fachtagung

Jenseits der Nostalgie.

Neuaneignungen des Spätsozialismus in osteuropäischen Gegenwartskulturen

Schwankten die ersten postsozialistischen Jahrzehnte noch zwischen kritischer Abrechnung mit der sozialistischen Vergangenheit und diffuser Nostalgie nach einer verloren gegangenen Stabilität, ändert sich das in letzter Zeit. In vielen Bereichen der osteuropäischen Literaturen und Kulturen ist vermehrt eine künstlerische und diskursive Neuaneignung insbesondere der spätsozialistischen Periode zu beobachten, die stark von medialen, populärkulturellen und identitätspolitischen Aspekten geprägt ist. Wenn Boris Groys die postkommunistische Situation als einen Weg zurück aus einer postnationalen Zukunft in die nationalstaatliche Gegenwart charakterisiert, dann wird heutzutage nach Jahren der neoliberalen Transformation und angesichts einer »breit« gewordenen Gegenwart (Hans Ulrich Gumbrecht) umgekehrt die Zeit vor 1989 als ein Raum der verpassten Chancen wiederentdeckt, als die Zukunft noch offen war. Auf ein breites Publikum zielende Fernsehserien, autobiographisch geprägte Familienromane, avancierte Kinofilme genauso wie nationalistische oder religiöse Gegenkulturen und revanchistische Kulturpolitiker rekonstruieren die letzten Jahrzehnte des real existierenden Sozialismus als eine zunehmend fiktionalisierte Spielwiese zur Revision bisheriger Gewissheiten. Die Tagung fragt in vergleichender Perspektive danach, worin diese Faszinationsmomente gründen und in welchen medialen und künstlerischen Formaten sich solche Verschiebungen insbesondere äußern, was auch grundlegende kulturtheoretische Reflexionen in Hinsicht auf ein mögliches Ende der »Ära der Nachahmung« (Ivan Krastev/Stephen Holmes) beinhaltet.

Organisiert von Riccardo Nicolosi (LMU München), Matthias Schwartz (ZfL)

Programm

11. November (Donnerstag)

14:00    Begrüßung und Eröffnung
14:15    Magdalena MARSZAŁEK (Universität Potsdam): Von Leibeigenen, Bystanders und Menschen: Neuverhandlungen der bäuerlichen Geschichte der polnischen Volksrepublik nach 2000.
             Nina WELLER (Europa-Universität Viadrina): Mythos der Jugend under deconstruction: Zur Neuaneignung der 1980er Jahre in  russ. Film und Literatur der 2000er
16:15    Zaal ANDRONIKASHVILI (ZfL Berlin): Alles war besser als Bolschewisten! – Lichte Vergangenheit und Dunkle Zukunft in der georgischen Gegenwartsliteratur
            Jeanette FABIAN (LMU München): „Eigentlich gibt es Osteuropa gar nicht“. Karel Cudlíns und Jáchym Topols Foto-Geschichten über die (Un)Lust, Osteuropäer zu sein

12. November (Freitag)

10:00    Barbara WURM (Humboldt-Universität): The Vanished Empire Strikes Back. Der Spätsozialismus im postsowjetischen Film
             Roman DUBASEVYCH (Universität Greifswald): Reconstructions of Soviet Rock Underground in Contemporary Russian Cinema
12:00    Otto BOELE (Universiteit Leiden): Near-Disasters and „Russkii avos‘”.  Imagining Soviet „Backwardness“ in Recent Russian Cinema.
14:30    Anna FÖRSTER (Universität Erfurt): Kitsch und Kulturkampf. Wie die US-amerikanische Rechte ostmitteleuropäische Dissidenten für sich entdeckt
             Boris BUDEN (Bauhaus-Universität Weimar): Is There a Society After Socialism?

16:30    Abenvortrag
             Mark LIPOVETSKY (Columbia University) via Zoom: Better than Nostalgia: Late Socialism in Recent TV series

Die Konferenz findet vor Ort im ZfL unter Einhaltung der 2G-Regelung statt. Das Platzkontingent ist begrenzt, wir bitten daher um vorherige Anmeldung hier. Es ist auch möglich, die Konferenz im Livestream via Zoom zu verfolgen. Zugangsdaten erhalten Sie nach Anmeldung hier.

Abb. oben: The Tsoi Wall (Fans an der Gedenkmauer für Wiktor Zoi [1962–1990], den Frontmann der Band Kino, an der Kreuzung von Arbat und Kriwoarbatski-Gasse in Moskau [Ausschnitt]), © reibai, Lizenz CC BY 2.0.


Veranstaltungsbericht

Bericht: Philipp Kohl

Vor zwanzig Jahren veröffentlichte die russisch-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Svetlana Boym ihr Buch The Future of Nostalgia und hat damit Debatten weit über die Osteuropawissenschaften hinaus geprägt. Die Hauptthese ihres Buchs: Nostalgie kann nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft gerichtet sein, weil ein „Heimweh“ (so die wörtliche Bedeutung) nach etwas Vergangenem auch immer etwas darüber sagt, wie man sich die Zukunft vorstellt. Für den Bezug postsozialistischer Gesellschaften auf ihre Vergangenheit vor 1989 war Nostalgie ein zentrales Deutungsmuster. Doch ist sie das auch noch für die Gesellschaften der Gegenwart? Diese Frage stellte die Konferenz mit Beiträgen zu literarischen, (audio-)visuellen und theoretischen Aneignungen des Spätsozialismus unter dem Titel „Jenseits der Nostalgie“.

In seiner Einführung stellte Matthias SCHWARTZ (ZfL) den Nostalgiebegriff als einen erfolgreichen Export der osteuropäischen Kulturwissenschaft vor, mahnte aber dessen begrenzte Haltbarkeit an. Er verwies dazu auf die Diagnose, die Ivan Krastev und Stephen Holmes 2019 in ihrem Buch The Light That Failed formulierten. Wenn die „Ära der Nachahmung“ zu Ende ist, Modelle westlicher liberaler Gesellschaften in Osteuropa also nicht mehr imitiert, sondern mit illiberalen Gegenentwürfen beantwortet würden, dann erfordere dies auch eine Neureflexion der spätsozialistischen Gesellschaften. Nachdem sich Osteuropa von einer postnationalen Zukunft in eine nationalstaatliche Gegenwart bewegt habe – so die Ankündigung der Konferenz – werde die Zeit vor 1989 immer mehr als ein Raum der verpassten Chancen wiederentdeckt, als die Zukunft noch offen war.

Die Entscheidung der Organisator*innen, dem Nostalgie-Paradigma keinen monolithischen Alternativbegriff entgegenzusetzen, mochte auf den ersten Blick als terminologische Verlegenheit erscheinen. Doch die Möglichkeit der Einzelbeiträge, das „Jenseits der Nostalgie“ gemäß den disparaten Kulturen Osteuropas individuell zu beschreiben, stellte sich als höchst sinnvoll heraus. Versammelt war ein breites Spektrum künstlerischer und theoretischer Neuaneignungen des Spätsozialismus in den Kulturen Mittel- und Osteuropas. Einerseits ging es dabei um gesellschaftliche Artikulationsformen, etwa im Beitrag zum neuerlichen historischen und soziologischen Interesse an Arbeitern und Bauern als politischem Subjekt des Spätsozialismus in Polen (Magdalena MARSZAŁEK) oder um die Frage nach dem „Postsozialen“ in Boris Budens Vortrag „Is there a society after socialism?“. Andererseits wurde das „Jenseits der Nostalgie“ als kulturelles Generationenproblem betrachtet, so in Nina WELLERS Beitrag zur Dekonstruktion des Hoffnungsmythos der Jugend der 1980er Jahre in neueren russischen Serien und Filmen oder in Zaal ANDRONIKASHVILIs Diskussion junger georgischer Gegenwartsautoren und ihrer Weigerung, sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft positiv zu beziehen. Zwei Vorträge widmeten sich medialen Darstellungsweisen des „Ostens“ jenseits (n)ostalgischer Sentimentalitäten, so etwa Jeanette FABIANs Beitrag über einen Fotoband von Karel Cudlín und Jáchym Topol und die mit postsozialistischen Erfahrungen verbundene „(Un)Lust, Osteuropäer zu sein“, oder Otto BOELEs Analyse des Topos russischer Rückständigkeit in zwei Blockbustern über sowjetische Fast-Katastrophen des Jahres 1985 (Salyut-7, Ledokol). Zwei durch ihre Konflikte mit dem russischen Staat berühmt gewordene Regisseure standen nicht mit ihren politischen Positionen, sondern mit ihren ästhetischen Verfahren im Fokus zweier Beiträge: Kirill Serebrennikovs Film Leto (2018), der laut Roman Dubasevych den „Kino“-Frontmann Viktor Coj „besser als das Original“ reinszeniert, und Oleh Sencovs Nosorig (2021) über einen Gangster der wilden 90er-Jahre, dessen Brutalität laut der Analyse von Barbara Wurm in seiner Jugend in der spätsowjetischen Ukraine entsteht.

Anna FÖRSTER (Erfurt) verwies in ihrem Beitrag auf eine bedenkliche Appropriation des Spätsozialismus in den USA: Seit den 2010er Jahren deuten amerikanische Konservative die Schriften von Dissidenten vor 1989 für ihre politische Agenda um. Am Beispiel des New Yorker Autors Rod Dreher zeigte Förster, wie die dissidentische Strategie, Politik jenseits von Institutionen zu betreiben, an unerwarteter Stelle wiederauftaucht. Für Dreher fällt die republikanische Partei als Repräsentant der christlichen Konservativen aus, nachdem sie Donald Trumps Präsidentschaft in den moralischen Verfall geführt hat. In seinem 2017 erschienenen Buch The Benedict Option: A Strategy for Christians in a Post-Christian Nation zitiert er den Essay Die Parallele Polis (1977) des katholischen tschechischen Dissidenten Václav Benda aus dem Kontext der Charta 77. Förster verwies in ihrem Beitrag auf die Widersprüche dieser sakralisierenden Rezeption, die sogar einen säkularen Intellektuellen wie Václav Havel vereinnahme. Mit seiner referentiellen Vagheit entspreche Dreher dem, was der polnische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem 2017 erschienenen Essay Retrotopia als Charakteristikum der „Retrotopie“ ausgemacht hat.

In seinem Abendvortrag analysierte Mark LIPOVETSKY (Columbia University) eine Reihe aktueller russischer Fernsehserien über die Sowjetunion seit der Tauwetterzeit. Sie fallen nicht in die Kategorie nostalgischer Vergangenheitserzählungen, da sie Aspekte des spätsowjetischen Lebensstils am Rande der Legalität darstellen: Schwarzmarkt, Korruption, illegale Geschäfte, die marginalen Freiheitsräume von Bohème und Glamour. Das Tauwetter (Ottepel’, 2013, Regie: Valerij Todorovskij), von der Kritik als Antwort des Staatssenders Pervyj Kanal auf Mad Men von HBO gedeutet, erzählt aus der Perspektive eines Filmregisseurs von der kreativen Klasse nach der Stalinzeit. Farca (2015, Regie: Egor’ Baranov), abgeleitet von farcovka, dem Slang-Ausdruck für den Schwarzmarkthandel mit Mangelware, schildert die Abenteuer von vier Moskauern, die sich zu Beginn der 1960er mit dem Verkauf von Röntgenbild-Schallplatten durchschlagen. Die Optimisten (Optimisty, seit 2017, Regie: Alexej Popogrebskij) über eine Gruppe von Diplomaten, die sich westliche Techniken der Medienmanipulation aneignen, um die internationalen Beziehungen der UdSSR zu steuern – in Lipovetskys Augen eine offensichtliche Anbiederung an Außenminister Sergej Lavrovs Kurs nach der Krimannexion. Fast karikaturhaft werde hier ein sozialistischer deep state bis hin zu einem fiktiven Staatsstreich gegen Chruščev imaginiert. Die Serien interpretierte Lipovetsky als Baumansche Retrotopien, die einen „neokonservativen Gesellschaftsvertrag“ propagierten. Einzelne transgressive und rebellische Elemente würden aus der spätsowjetischen Geschichte ausgewählt, um den heutigen status quo zu rechtfertigen. Diese Retropien seien weder auf eine Vergangenheit noch auf eine Zukunft gerichtet, sondern auf Eskapismus.

Ihren Abschluss fand die Tagung mit einer Lesung der Berliner Schauspielerin und Musikerin Marina FRENK. Einen dezidiert antinostalgischen Titel hat sie ihrem 2020 im Wagenbach-Verlag erschienenen Debütroman gegeben: ewig her und gar nicht wahr, den Riccardo NICOLOSI (München) in seiner Einführung des Gesprächs als Eindeutschung eines russischen Idioms („davno i nepravda“) vorstellte. Wie die Autorin ist die Hauptfigur Kira in den 1990er Jahren aus der Republik Moldau nach Deutschland gekommen. Der Roman erzählt nicht nur von ihrem Leben als Künstlerin im Berlin der Gegenwart, sondern auch von der Geschichte ihrer jüdischen Familie im 20. Jahrhundert. In der Diskussion erläuterte Frenk die Komposition mit mehreren Ich-Erzählerinnen, Temporawechsel und Visionen zeitlich und räumlich unbestimmter Orte. Der Spätsozialismus, den die 1986 geborene Autorin selbst nicht bewusst erlebt hat, ist als Erbe der Vorgängergeneration latent immer anwesend. Für Frenk, die sich im Publikumsgespräch als „komplett unnostalgischen Menschen“ bezeichnete, stellt er jedoch keinen expliziten Bezugspunkt dar. Auf performative Weise verdeutlichte ihre Lesung die Dynamik einer Gegenwartsliteratur, die sich den etablierten Erinnerungs- und Erzählschemata der Nostalgie zu entziehen vermag.

Der Tagungsbericht ist am 10.12.2021 erschienen: Jenseits der Nostalgie. Neuaneignungen des Spätsozialismus in osteuropäischen Gegenwartskulturen, 11.11.2021 – 12.11.2021 Berlin, in: H-Soz-Kult, 10.12.2021, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9217

Veranstaltungsbericht (PDF, 170 kB)

Datum:
11.11., 14:00 Uhr bis 12.11.2021, 17:30 Uhr

Ort:
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung
Aufgang B, 3. Etage
Schützenstr. 18
D-10117 Berlin

Sprache(n):
Deutsch

Kooperationspartner:
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