Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe

Чарнобыльскія дзеці. Транснацыянальная гісторыя ядзернай катастрофы

Mehr als eine Million Kinder und Jugendliche wurden nach der Katastrophe von Tschernobyl zusammen mit tausenden von Begleitpersonen auf Reisen geschickt, um sich von der Strahlenexposition, zunehmend aber auch vom Alltag in der (post-)sowjetischen Zusammenbruchsgesellschaft zu erholen. Um diese »Tschernobylkinder« bildete sich ein dichtes transnationales Netzwerk von NGOs und Privatpersonen. Es übernahm immer mehr Aufgaben, die der Staat nicht mehr leisten konnte. Das mit der Öffnung der Sowjetunion einsetzende weltweite Engagement trug dazu bei, den atomaren Unfall, der in weiten Teilen der Welt zunächst als »typisch sowjetisch« galt, als transnationale Katastrophe sicht- und wahrnehmbar zu machen, indem es die Realität der Katastrophe in den Alltag der Menschen in Europa und Nordamerika holte. Arndt zeigt, wie die »Tschernobylkinder« zugleich zu Zeugen und Repräsentanten eines untergehenden politischen Systems und der Auflösung der bipolaren Weltordnung wurden.

2018 habilitierte Melanie Arndt sich mit einer Studie zu den transnationalen sozialen Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl. Das Buch „Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe“ erschien 2020 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen.

Begrüßung
Gabriele FREITAG
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin

Moderation
Astrid SAHM
Internationales Bildungs- und Begegnungswerks Dortmund, Gastwissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

Podiumsgast
Melanie ARNDT
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Kommentar
Katsiaryna KRYVICHANINA
Minsk-Warschau-Vilnius

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Прэзентацыя кнігi
пятніца, 21 траўня 2021 г.
а 17:00-18:30 (беларускі час)

Больш за мільён дзяцей і падлеткаў пасля катастрофы на Чарнобыльскай АЭС разам з тысячамі суправаджаючых былі адпраўлены ў паездкі на аздараўленне ад радыяцыі. Такія паездкі былі і магчымасцю  адпачыць ад паўсядзённага жыцця ўзрушанага (пост)савецкага грамадства. Вакол гэтых "чарнобыльскіх дзяцей" сфарміравалася шматлікая транснацыянальная сетка з НДА і прыватных асоб, якая брала на сябе усё новыя задачы, якія дзяржава не магла выконваць. З пачаткам адкрыцця Савецкага Саюза міжнародная заангажванасць спрыяла і таму, што ядзерная аварыя, якая першапачаткова лічылася "тыпова савецкай", стала ўсведамляцца транснацыянальнай катастрофай. Яна станавілася больш бачнай і адчувальнай часткай рэальнасці у паўсядзённым жыцці людзей у Еўропе і Паўночнай Амерыцы. Арндт паказвае, як "чарнобыльскія дзеці" сталі адначасова сведкамі і прадстаўнікамі сыходзячай палітычнай сістэмы і біпалярнага сусветнага парадку. У 2018 годзе Мелані Арндт атрымала званне прафесара за даследаванне транснацыянальных і сацыяльных наступстваў Чарнобыльскай катастрофы. Кніга “Чарнобыльскія дзеці. Транснацыянальная гісторыя ядзернай катастрофы” выйшла ў 2020 годзе ў выдавецтве Vandenhoeck & Ruprecht у Гётынгене.

Германскае таварыства па даследаванні Усходняй Еўропы ў супрацоўніцтве з кафедрай эканамічнай, сацыяльнай і экалагічнай гісторыі, кафедрай навейшай гісторыі Усходняй Еўропы і кафедрай славянскай філалогіі Фрайбургскага універсітэта імя Альберта і Людвіга.

Vorname = Імя

Nachname = Прозвішча

Institution oder Ort = Інстытуцыя

Anmerkungen = Заўвагі

* Pflichtfeld = Абавязкова для запаўнення

Veranstaltungsprogramm

Buchvorstellung "Tschernobylkinder" (PDF, 223 kB)

Прэзентацыя кнігі „Чарнобыльскія дзеці..." (PDF, 221 kB)


Veranstaltungsbericht

Bericht: Mietje Kuhnhardt

„Dass ich ein Tschernobylkind war, hatte vor allem Vorzüge. Tschernobyl hat mich zur Kosmopolitin gemacht.“ Das ist das Resümee von Svetlana aus Gomel, die als sogenanntes Tschernobylkind nach Deutschland, Frankreich und Italien reiste. Mehr als eine Million ukrainische, russische und belarussische Kinder und Jugendliche wurden nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 zusammen mit Tausenden von Begleitpersonen auf Reisen geschickt, um sich von der Strahlenexposition, zunehmend aber auch vom Alltag in der (post-)sowjetischen Zusammenbruchsgesellschaft zu erholen. Es setzte ein weltweites Engagement ein, dass dazu beitrug den atomaren Unfall als transnationale Katastrophe zu sehen und den Menschen in Europa die Realität der Katastrophe vor Augen führte. Dies ist das Thema des Buches „Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe“, das Melanie ARNDT, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2020 veröffentlichte.

Im Rahmen der Buchvorstellung erläuterte Arndt, sie habe 25 Jahre lang unterschiedliche Geschichten von den ehemaligen Kindern gehört, die an den Auslandsreisen teilnahmen. Das „Tschernobylkind“ gäbe es für sie nicht. Die Voraussetzungen und Erfahrungen seien zu unterschiedlich, um die Geschichten in einem Begriff zusammenzufassen. Dennoch wurde der Begriff – insbesondere in späteren Jahren – in der Bevölkerung vielfach verwendet. Einige Personen sprechen sogar von einer ganzen Generation der „Tschernobylkinder“. Für Arndt standen allerdings die vielschichtigen transnationalen Beziehungsgeflechte im Vordergrund, die sich ab Ende der 1980er Jahre um die sogenannten Tschernobylkinder herausbildeten. Deren Leben betrachtete sie in ihrem Buch mit Fokus auf die Katastrophe und die parallel ablaufenden gesellschaftlichen und politischen Umbrüche. Dabei setzte sie den Fokus auf Belarus als dem Land, das mit einem Anteil von 70% des radioaktiven Fallouts am meisten betroffen war. Im Mittelpunkt steht die Generation der inzwischen Vierzigjährigen, die zu den Träger*innen der aktuellen gesellschaftlichen Proteste in Belarus zählen.

Ab Mitte der 1990er Jahre standen die Tschernobylkinder weltweit im Fokus. Die Kinder, ihre Familien und Betreuungspersonen knüpften persönliche Kontakte zu Gasteltern in anderen Ländern, auch den USA. Einige Geschichten gelten als positives Beispiel, so erhielten die Tschernobylkinder beispielsweise durch ihren Auslandsaufenthalt viel Aufmerksamkeit in ihren Gastfamilien und darüber hinaus finanzielle Unterstützung. Arndt verdeutlicht aber auch, dass es genauso negative Wahrnehmungen des Austausches gab, wenn die Kinder eher in ärmere, ländliche Regionen, z.B. in Polen, kamen oder von den Programmen nichts erfuhren und daher nicht partizipieren konnten.

Im Laufe der Zeit entstanden zunehmend nichtstaatliche ukrainische und belarussische Hilfsorganisationen, wie z.B. die belarusische Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ (Международный благотворительный фонд "Детям Чернобыля"), die Kongresse organisierten und Programme initiierten, um Begegnungen und Wissenstransfer über die Katastrophe zu fördern und Netzwerke für die Kinder und Jugendlichen auszubauen. „Tschernobyl brachte Bewegung in die Ost-West-Beziehungen weit über materielle und humanitäre Hilfe hinaus.“, so Arndt. Das Ziel war die Linderung der Katastrophenfolgen für die „Tschernobylkinder“ und die öffentliche Aufmerksamkeit, sodass der als „typisch sowjetisch“ deklarierte atomare Unfall, als globale Katastrophe sichtbar werden konnte. Das anfangs vor allem religiöse, später auch politisch motivierte Engagement trieb zum Teil Demokratisierungsprozesse in der post-sowjetischen Gesellschaft voran.

Ab 1996 änderte sich die bereitwillige Hilfe und der Zuspruch der Bevölkerung dazu, die Kinder ins Ausland zu verschicken. So häuften sich nicht nur die staatlichen Eingriffe in die Koordinierung. Skeptische Stimmen befürchteten, die Kinder würden einen „Kulturschock“ im Ausland erleben, was zu einer Entfremdung vom eigenen Land führen würde. Staatliche Institutionen und der belarusische Geheimdienst wurden aktiv und nichtstaatliche Organisationen wurden in ihrer Tätigkeit vermehrt eingeschränkt. Auch konnten aus finanziellen Engpässen im Laufe der Zeit keine Beitragszahlungen von Belarus und der Ukraine mehr geleistet werden. Es fand ein Umbruchsprozess statt.  2008 verschärfte der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko die Regelungen für die Kinderverschickungen so weit, dass sie für die USA nicht mehr akzeptabel waren. Der Auslöser war die Weigerung einer damals 16-jährigen Belarusin, die Rückreise nach Belarus anzutreten, da sie es bevorzugte in ihrer Gastfamilie in den USA zu wohnen.

Dennoch, die Kontakte der Gastfamilien zu den jeweiligen Kindern und Jugendlichen hielten noch über mehrere Jahre an. Heutzutage, verdeutlicht Arndt, helfen die sozialen Medien verstärkt, sodass die Kontakte wieder aufgenommen oder neu hergestellt werden können. In Bezug auf die Initiativen sei allerdings ein Rückgang zu vermerken, da nachfolgende Generationen die Arbeit nicht mehr übernehmen wollen.

In den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit seien Belarus und die Tschernobyl-Katastrophe erneut durch die Serie „Tschernobyl“ (HBO) gerückt, die auch aus Sicht der Kommentatorin Katsiaryna KRYVICHANINA, Minsk-Warschau-Vilnius, die Problematiken und das Ausmaß der Reaktorkatastrophe gelungen darstellt. Die Serie habe dafür gesorgt, dass das atomare Unglück nicht in Vergessenheit gerät und auch international wieder in den Fokus rücken konnte.

Datum:
21.05.2021, 16:00 Uhr bis 17:30 Uhr

Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.

Sprache(n):
Deutsch und Belarusisch, simultan gedolmetscht

Programm:

Buchvorstellung "Tschernobylkinder" (PDF, 223 kB)

Прэзентацыя кнігі „Чарнобыльскія дзеці..." (PDF, 221 kB)

Kooperationspartner:
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