Zur Situation der Jurist*innen in Belarus

Im Kontext der Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 kam es zu massiven Fälschungen. Die Mitgliedsstaaten der Europäische Union erkannten die offiziellen Wahlergebnisse daher nicht an. Im Land selbst gab es friedliche Proteste zahlreicher Menschen, die vom Regime nach anfänglichem Zögern brutal niedergeschlagen wurden. Die Menschen-rechte der Demonstrant*innen, aber auch Unbeteiligter wurden in erheblichem Umfang verletzt.
Juristinnen und Juristen spielten bei diesen Ereignissen eine wichtige Rolle. Im Staatsapparat, vor allem in der Justiz, machten sie sich zu Handlangern des Regimes und waren aktiv an Rechtsverletzungen beteiligt. Umgekehrt kämpften vor allem unabhängige Rechtsanwältinnen und -anwälte für die Rechte der Opfer. Sie sind täglich mit der Realität eines Unrechtsstaates konfrontiert, werden massiv eingeschüchtert und an der korrekten Ausübung ihres Berufs gehindert. Gegen manche wurden Strafverfahren eröffnet, anderen wurde die Zulassung entzogen, einige mussten das Land verlassen.
Es ist wichtig, diese Situation nur 700 km ostwärts von Berlin aufmerksam zu verfolgen. Die internationale Wahrnehmung und die Solidarität der Kolleg*innen im Ausland sind ein wichtiger Schutz für die Betroffenen. Bei dem Fachgespräch wird es neben einer Darstellung der aktuellen Situation in Belarus vor allem auch um die Frage gehen, was Deutschland und was deutsche Juristinnen und Juristen für ihre Kolleg*innen in Belarus tun können.

Diskutanten:

Michail KIRILJUK*
Rechtsanwalt, Mitglied des Koordinationsrats der belarussischen Opposition

 

Sergey LAGODINSKY
Jurist, Autor und Mitglied des Europäischen Parlaments, stv. Vorsitzender des Rechtsausschusses

Moderation:

Josephine DOLL
Sprecherin der Jungen DGO

Die Diskussion wird Deutsch-Russisch simultan verdolmetscht.
Bitte melden Sie sich zu dieser Veranstaltung hier an.

Hier ein Interview für Osteuropa mit dem Referenten KIRILJUK.

 

Veranstaltungsprogramm

Flyer (PDF, 155 kB)


Veranstaltungsbericht

 

Bericht: Erika Balzer

Die friedlichen Proteste nach den Fälschungen der Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 wurden vom Regime nach anfänglichem Zögern brutal niedergeschlagen. Die Menschenrechte der Demonstrierenden, aber auch Unbeteiligter, wurden in erheblichem Umfang verletzt. Juristinnen und Juristen spielten dabei auf beiden Seiten eine wichtige Rolle. Im Staatsapparat, vor allem in der Justiz, machten sie sich zu Handlangern des Regimes. Gleichzeitig kämpften vor allem unabhängige Rechtsanwältinnen und -anwälte für die Rechte der Opfer. Sie werden inzwischen massiv eingeschüchtert und an der Ausübung ihres Berufs gehindert. Die Repressionen reichen von Strafverfahren bis zum Entzug der Zulassung. Einige Juristinnen und Juristen haben das Land inzwischen verlassen. Die Fachgruppe Recht und die Junge DGO nahmen diese Situation zum Anlass für ein Gespräch über die aktuelle Rechtssituation in Belarus und die Frage, welche Unterstützung aus Deutschland und der Europäischen Union kommen können.

Der Rechtsanwalt Michail Kiriljuk ist selbst von den Repressionen betroffen. Nachdem ihm seine Lizenz durch das Justizministerium entzogen wurde, lebt er nun in Polen. Kiriljuk gibt an, dass nach seinem Kenntnisstand mehr als 30.000 Menschen von den Strafmaßnahmen betroffen sind. Er konstatierte, dass die Machthabenden in Belarus auch vor den Protesten im vergangenen Jahr häufig gegen die eigene Gesetzgebung verstießen, betonte aber, dass 2020 ein neues Maß erreicht wurde. Besonders infam ist, dass friedlichen Demonstrierenden, die Opfer staatlicher Gewalt wurden, selbst Gewalt vorgeworfen wird.

In vielen Fällen haben die Anwälte keine Kenntnis darüber, wo ihre Mandantinnen oder Mandanten inhaftiert sind. Besuche von Anwälten und Anwältinnen in den Gefängnissen sind nur in Ausnahmefällen zugelassen; als Grund wird die Covid 19-Pandemie angeführt. Telefonate werden oft aufgezeichnet. Bei Gerichtsverhandlungen sind Zeuginnen und Zeugen häufig nicht zugelassen. Seltene Ausnahmen erlebte Kiriljuk nur dann, wenn ein Vergehen so offensichtlich vorgetäuscht war, dass selbst die Richterinnen und Richter die Aussagen der Sicherheitsbehörden nicht akzeptierten.

Rechtsanwältinnen und -anwälte werden in der Regel  als Komplizen der Angeklagten behandelt. Kiriljuk berichtet von vielen Kolleginnen und Kollegen, die durch massive Einschränkungen und Strafen ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Zum Teil sind Anwälte selbst seit Monaten in Untersuchungshaft oder dürfen ihren Aufenthaltsort nicht verlassen. Die Qualifikationen der Anwältinnen und Anwälte, die Inhaftierte vertreten, werden überprüft; unter dem Vorwurf mangelnder Qualifikation wird vielen die Lizenz entzogen. Momentan, so Kiriljuk, sei es nicht mehr möglich, sich im Land ungestraft kritisch über Urteile oder die belarusische Justiz im Allgemeinen zu äußern. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen hätten sich aber gar nicht medial, ihr einziges „Vergehen“ sei es gewesen, politisch Gefangene zu verteidigen.

Im Justizministerium gibt es derzeit viele Umstrukturierungen. Die Leitungen der Anwaltskammern sollen jetzt durch das Justizministerium ernannt werden. Da es an Personal mangelt, um alle Verfahren zu bearbeiten, werden ehemalige Ermittlungsbeamte der Milizen ohne einen Test aufgenommen; es reicht eine mündliche Prüfung. Gleichzeitig fehlt es an juristischem Nachwuchs, da das Rechtswesen aufgrund der staatlichen Repressionen für junge Menschen nicht mehr attraktiv ist.

Kiriljuk bezeichnet die Situation als „rechtlichen default“; in Belarus herrsche nicht mehr „rule of law“, sondern „rule by law“. Er forderte die Beendigung von Kooperationen deutscher Firmen mit Unternehmen und Abgeordneten aus Belarus. Dort zähle nur Stärke, Menschenrechte seien dem Regime egal.

Der EU-Abgeordnete Sergey Lagodinsky bemüht sich, die Anliegen der Juristinnen und Juristen in und aus Belarus im Parlament der Europäischen Union zu thematisieren. Resolutionen sollen Aufmerksamkeit für die Betroffenen auf Ebene der EU, aber auch in Deutschland schaffen. Die Schicksale der belarusischen Menschenrechtsverteidiger*innen dürfen, so Lagodinsky, nicht vergessen werden. Die Verfolgung des Rechtsanwalts Maksim Znak, der als Verteidiger des inhaftierten Oppositionskandidaten Wiktar Babaryka im September 2020 selbst festgenommen wurde, bezeichnete er als erste Welle, den darauf folgenden systematischen Austausch des Personals in der Justiz als zweite Welle und als Ergebnis einer „Spirale des Unrechts“.

Lagodinsky selbst hat die parlamentarische Patenschaft von Znak übernommen und arbeitet derzeit an der Kontaktaufnahme zu den Familien von Betroffenen. Lagodinsky erklärte, mit Deutschland gäbe es besondere historische und aktuelle Verbindungen, weshalb ihm Solidaritätsbekundungen deutscher, aber auch europäischer Jurist*innen und Politiker*innen besonders wichtig seien.

Auf die Frage der Moderatorin Josephine Doll, Juristin und Sprecherin der Jungen DGO, was Deutschland und die EU tun könnten, schlug Lagodinsky vor, neue menschenrechtliche Mechanismen auf EU-Ebene einzusetzen. Dazu zähle auch, dass man nicht nur die regierende Elite und Oligarchen auf die Sanktionslisten setzt, sondern auch Personen aus dem Beamten- und Justizapparat. Auch den Vorschlag, einer systematischen Dokumentation des Unrechts begrüßte Lagodinsky. Hierfür müssten ein internationaler Ermittlungsmechanismus und eine zentrale Erfassungsstelle eingerichtet werden, um offene Quellen und Datenbanken, die bereits geführt werden, zusammenzuführen. Lagodinsky plädierte außerdem für die Einsetzung langfristiger Mechanismen, wie z.B. Fortbildungsangeboten zur richterlichen Unabhängigkeit. In Belarus fehle es nicht an Qualifizierung, sondern an Gewissen und politischer Haltung. Sehr wichtig sei es aber auch, den Betroffenen einen Aufenthalt in der EU zu ermöglichen. Das Visaregime in Deutschland und der EU müsse die Notlage der politisch Verfolgten berücksichtigen.

Einigkeit herrschte darüber, dass man das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Situation in Belarus nur durch stetige Berichterstattung in den Massenmedien schärfen könne. Viel zu schnell würden Entwicklungen wie die in Belarus zur Normalität. Umso wichtiger ist die Arbeit von NGOs und einzelnen Personen, die immer wieder und unermüdlich auf die prekäre Lage in Belarus hinweisen.

Datum:
18.03.2021, 18:00 Uhr bis 19:00 Uhr

Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

Flyer (PDF, 155 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde