Die Russische Invasion in die Ukraine – Perspektiven der historischen Sicherheitsforschung

Kritische Infrastrukturen und Sicherheit

Die Definition kritischer Infrastrukturen ist ein politischer Prozess, in dem durch die Charakterisierung als solche Sicherheitsvorstellungen und Bedrohungsszenarien gleichermaßen inkludiert sind. Ihrem Schutz wird daher höchste Priorität beigemessen, um wirtschaftliche, soziale und politische Ziele und Handlungen zu rechtfertigen. Wie werden kritische Infrastrukturen eingesetzt, um Sicherheit herzustellen?

Moderation: Martin AUST (Bonn)
Konzeptueller Input: Andreas LANGENOHL (Gießen)

Expert*innen:
Jochen MONSTADT (Utrecht)
Anna Veronika WENDLAND (Marburg)
Carola WESTERMEIER (Frankfurt a.M.)

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Veranstaltungsprogramm

Kritische Infrastrukturen (PDF, 444 kB)


Veranstaltungsbericht

Die dritte Veranstaltung der Reihe "Die Russische Invasion in die Ukraine – Perspektiven der historischen Sicherheitsforschung" befasste sich mit der Frage, wie kritische Infrastrukturen eingesetzt werden, um Sicherheit herzustellen. Die Definition kritischer Infrastrukturen ist ein politischer Prozess, in dem Sicherheitsvorstellungen und Bedrohungsszenarien gleichermaßen inkludiert sind. Ihrem Schutz wird daher höchste Priorität beigemessen, um wirtschaftliche, soziale und politische Ziele und Handlungen zu rechtfertigen. Über die Definition und die Bedeutung kritischer Infrastruktur diskutierten Andreas LANGENOHL, Jochen MONSTADT, Anna Veronika WENDLAND und Carola WESTERMEIER.

In seinem konzeptionellen Input definierte Langenohl zunächst kritische Infrastrukturen und ordnete diesen die Sektoren Energie, Transport, Informationstechnologie sowie Finanzinfrastrukturen, beispielsweise Zahlungssysteme, zu. Dabei betonte er den Zusammenhang zwischen Infrastrukturen und ökonomischen Prozessen. Der politisch-ökonomische Bezugsrahmen von Sicherheit sei hierbei die Existenzsicherung von Interdependenzketten, welche die Gesamtwirtschaft konstituieren. Die Wirtschaft sei in ihrer Gesamtheit eine gigantische Infrastruktur, die in ihren einzelnen Arbeitsbereichen vulnerabel sei. Besonders stellte Langenohl die geopolitische Sicherheitsdimension von kritischen Infrastrukturen in den Vordergrund. Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine habe diese Dimension an Bedeutung gewonnen und dominiere inzwischen andere Sicherheitsdefinitionen von Infrastrukturen. Geopolitisch ziele die Sicherung von Infrastrukturen letztendlich auf die Sicherung der Existenz, der Souveränität und der Interessen eines politischen Gemeinwesens im internationalen System ab. Der Grund für die erstaunlich schnelle Umsetzung von Sanktionen gegen Russland durch die Europäische Union liege auch an der Dominanz der geopolitischen Gefährdungswahrnehmung – die Bedeutung von Infrastrukturen für die Sicherheitspolitik sei erheblich. Wie anhand des russischen Angriffskriegs deutlich werde, würden Infrastrukturen sowohl als gefährdet als auch gefährdend wahrgenommen.

In der westlichen Außenpolitik werde die Gefährdung der kritischen Infrastrukturen momentan durch die Debatte um Unabhängigkeit in der Energieversorgung deutlich. Gerade in Konflikten werden Infrastrukturen jedoch auch zu einem Instrument der Geopolitik Russland gegenüber. Neben Energieinfrastrukturen seien so auch der Ausschluss aus dem SWIFT-System des russischen Banken- und Finanzsektors sowie Überflugs- und Landeverbote für russische Flugzeuge Sanktionsobjekte der westlichen Außenpolitik. In der westlichen Wahrnehmung von Sicherheit und Gefährdungsstrukturen in Bezug auf Russland sehe er einen Imperativ der Entflechtung von Infrastrukturen.

Am Beispiel des russischen Angriffs auf ein Kernkraftwerk in der Ukraine im März 2022 diskutierte Wendland die Problematik der Sicherheits- und Bedrohungswahrnehmung von Kernkraft in Krisengebieten. Kernkraft habe ein hohes Risikopotential und sei somit sowohl eine Sicherheits- als auch Unsicherheitsstruktur. Die Wahrnehmung sei dabei von den jeweiligen Akteur*innen abhängig, wobei sie zwischen Betroffenen und Angegriffenen unterschied. Aus ukrainischer Sicht sei der Angriff auf das Atomkraftwerk ein Zivilisationsbruch und somit ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen, die den Umgang mit solchen Infrastrukturen festgelegen. Sowohl Angreifende als auch Angreifer dürften Atomkraftwerke, Staudämme und Deiche nicht zu Kriegszwecken verwenden. Laut Wendland haben Angriffe auf kerntechnische Infrastrukturen neben technischen und ökonomischen Folgen – wie die Schädigung des Gegners und die Bemächtigung zu eigenen Zwecken – auch kommunikative Funktionen. Der Angriff sei eine Machtdemonstration der russischen Seite. Daher sei die Attacke Russlands ganz gezielt nur auf das Verwaltungsgebäude und nicht auf die Kernkraftreaktoren gerichtet gewesen, so Wendland. Aber auch die Reaktion der Ukraine sei als Form der politischen Kommunikation zu interpretieren. Das Ereignis sei als Appel an die Unterstützung der westlichen Länder genutzt worden. Um hier Unterstützung zu mobilisieren, sei dabei auf die Rhetorik eines großen Atomunfalls zurückgegriffen worden.

Westermeier erläuterte die politische Praxis von Sanktionen und hob die dabei entstehenden Paradoxien hervor. Aus westlicher Sicht seien Sanktionen zur Zeit die sicherheitspolitisch relevantesten Maßnahmen. Sie sollen militärische Mittel nicht ergänzen, sondern ersetzen. Ohne infrastrukturelle Kontrolle sei dies jedoch nicht möglich. Nur wer Zugriff auf Infrastrukturen habe, könne Sicherheitsinteressen auch entsprechend durchsetzen, denn Infrastrukturen seien Angriffs- und Kontrollpunkte und somit essentiell für Sicherheitspraktiken. Militärische Operationen hätten deshalb oft kritische Infrastrukturen als Ziel. Westermeier machte darauf aufmerksam, dass der infrastrukturelle Zugriff global ungleich und lediglich zugunsten des Nordens verteilt sei. Infrastrukturelle Kontrolle sei mit politischer Sicherheitsmacht verbunden. Dies habe jedoch auch eine paradoxe Wirkung. Als nach der Annexion der Krim 2014 Russland die ersten Finanzsanktionen auferlegt wurden, sei dort über Alternativen zum SWIFT-System nachgedacht worden, um sich zukünftigen Sanktionen entziehen zu können. Die sicherheitspolitische Nutzung von Infrastrukturen führe somit auch zu paradoxen Entwicklungen. Ähnlich wie Langenohl sah sie hierbei eine geopolitisch motivierte Entwicklung hin zu Entflechtung. Zumeist auf Konnektivität beruhende Infrastrukturen würden nun zunehmend fragmentiert. Lokale und nur punktuell vernetzte Infrastrukturen könnten die Wirkung von Sanktionen schwächen.

Die zentrale Rolle der Städte in der Kriegsführung hob Monstadt in seinem Beitrag hervor. Städtisch vernetzte Infrastrukturen seien zum zentralen Bestandteil moderner Militärstrategien geworden. Gerade durch Städte habe die Konfliktausübung eine neue Dimension erhalten. Zum einen seien moderne Städte Knotenpunkte von Infrastrukturen. Die einzelnen Infrastrukturen seien stark voneinander abhängig, so sei zum Beispiel die Energieinfrastruktur eine wichtige Voraussetzung für die Funktionsweise anderer Infrastrukturen. Bei Infrastrukturausfällen habe das kaskadenartige Auswirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Leben. Gerade in technisch hochentwickelten Städten sei die Abhängigkeit von und die Vulnerabilität von Infrastrukturen stark gestiegen. Zudem hätten insbesondere Russland und USA militärische Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen unternommen, um Waffen gegen städtische Infrastrukturen zu entwickeln. Der russische Krieg gegen die Ukraine mache die Interdependenz der städtischen Infrastrukturen deutlich. Angriffe auf den Energie- und Wassersektor, Eroberungen von Ölraffinerien und Gasleitungen, die Bombardierung von Kraftwerken und Sabotage von Übertragungsleitungen führten in ukrainischen Städten zu lebensbedrohlichen Infrastrukturausfällen. Auch moderne Kommunikationsinfrastrukturen würden in vielfältiger Weise in geopolitischen Auseinandersetzungen genutzt, so Monstadt. Ein typisches Beispiel seien Cyberangriffe. Die Teilnehmenden teilten jedoch den Eindruck, dass diese im Krieg von russischer Seite aus erstaunlich selten eingesetzt, sondern eher auf konventionelle Kriegsmethoden zurückgegriffen werde.

(Pauline Fell)

Datum:
17.05.2022, 16:30 Uhr bis 17:30 Uhr

Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

Kritische Infrastrukturen (PDF, 444 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Kooperationspartner:
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