Schlüsselland Tschechien

Politik und Gesellschaft in der Mitte Europas

In Tschechien und in Deutschland sind neue Regierungen im Amt. An den Beziehungen der beiden Länder dürfte sich dadurch kaum etwas ändern, denn 25 Jahre nach Verabschiedung der Deutsch-Tschechischen Erklärung sind sie stabil und belastbar. Historische Streitthemen wurden beigelegt, Interessenkonflikte pragmatisch geregelt. Allerdings bleibt die Verflechtung der beiden Gesellschaften schwach. Politische Fragen, in denen es um strategische Präferenzen und Werte geht, etwa die Haltung zu Nation, Souveränität und Migration, sind stark von innenpolitischen Konstellationen beeinflusst.
Inwiefern sich Tschechien von den anderen Ostmitteleuropäern unterscheidet und wie die sozioökonomische Entwicklung des Landes seine Haltung zur Europäischen Union, zu Russland und dem Krisenbogen in der östlichen Nachbarschaft prägt, darüber diskutieren

Zuzana LIZCOVÁ
Lehrstuhl für Deutsche und Österreichische Studien, Karls-Universität, Prag

Vladimír HANDL
Institut für Internationale Studien, Prag

und
Volker Weichsel
Osteuropa, Berlin

unter der Moderation von
Manfred Sapper
Osteuropa, Berlin

Die Diskussion basiert auf den Analysen des Osteuropa-Länderhefts „Schlüsselland Tschechien. Politik und Gesellschaft in der Mitte Europas“.

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Einlass ist um 18:30 Uhr. Bitte beachten Sie, dass die Anzahl der Sitzplätze begrenzt ist. Wir bitten Sie, während der gesamten Veranstaltung eine FFP2-Maske zu tragen. Bitte beachten Sie, es gilt die 2G+ Regelung. Zugang erhalten nur Personen, die geimpft oder genesen sind. Für Personen, die noch keine Booster-Impfung erhalten haben, ist ein tagesaktueller negativer Corona-Test erforderlich.

Veranstaltungsprogramm

Einladungsflyer (PDF, 198 kB)

©Tschechisches Zentrum Berlin

Veranstaltungsbericht

Hier finden Sie den Podcast zur Veranstaltung: https://www.soundtier.com/tschechisches-zentrum-berlin/schlusselland-tschechien

Zum 25. Jubiläum der „Gemeinsamen Erklärung über die deutsch-tschechischen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“ fand in der tschechischen Botschaft in Berlin eine Podiumsdiskussion rund um das Osteuropa-Heft „Schlüsselland Tschechien“ statt. Über die deutsch-tschechischen Beziehungen diskutierten Vladimír HANDL vom Prager Institut für Internationale Studien, Zuzana LIZCOVÁ, Lehrstuhlinhaberin für deutsche und österreichische Studien der Karls-Universität Prag und Volker WEICHSEL aus der Redaktion der Zeitschrift Osteuropa.

Die deutsch-tschechische Erklärung stellt einen wichtigen Meilenstein für die bilaterale Beziehung der beiden Länder dar. Seit ihrer Unterzeichnung hat sich viel verändert. Die Verbindungen zwischen Deutschland und Tschechien haben sich vertieft. Mit den 2021 in beiden Ländern neu gewählten Regierungen wurde nun ein neues Kapitel aufgeschlagen. Während Deutschland erstmals von einem Drei-Parteien-Bündnis regiert wird, ist es in Tschechien eine Koalition aus fünf Parteien unter Ministerpräsident Petr Fiala, die auf die Regierung von Andrej Babiš folgt.

In der Diskussion zeigte sich Vladimír Handl angesichts der neuen Situation optimistisch, was die deutsch-tschechischen Beziehungen post-Babiš angeht. Babiš sei eine treibende Kraft in vielen binationalen Konflikten gewesen. So unterstützte der ehemalige Ministerpräsident den amerikanischen Präsidenten Trump, während sich die deutsche Führung kritisch zu dessen Agenda äußerte. Allerdings, so Handl, gebe es auch weiterhin Gesprächsbedarf zwischen den beiden Ländern. Klima- und Energiepolitik bleiben Streitpunkte. Zuzana Lizcová verwies in diesem Zusammenhang auf die Umsetzung des Europäischen Grünen Deals, aber auch auf die Corona-Pandemie, welche die grenzübergreifende Zusammenarbeit belastet. Europapolitisch mag die nächste Legislaturperiode ohne Babiš besser verlaufen, aber viele der Koalitionsparteien sind dennoch weiterhin EU-skeptisch und auch innenpolitisch erschwert ein Bündnis aus fünf Parteien die Entscheidungsfindung. Vor allem die tschechische Piratenpartei (Česká pirátská strana) mit ihrer von den anderen Parteien abweichenden Position könnte Probleme bereiten, so Lizcová. Handl teilte diese Bedenken. Insgesamt sei die deutsch-tschechische Beziehung zu einseitig: Deutschland habe zu wenige Tschechien-Expert*innen, die Berichterstattung über Tschechien bleibe Mangelware. Im Vergleich sei selbst in der Zeitschrift Osteuropa seit dem EU-Beitritt Tschechiens mehr als doppelt so häufig über Polen und ca. 10-Mal häufiger über Russland geschrieben worden.

Auch die tschechische Rolle in der Visegrád-Gruppe wurde thematisiert. Bereits im entsprechenden Heft der Osteuropa hatte Handl die in Deutschland vorherrschend vertretene Meinung über Tschechien während der Migrationskrise kritisiert. Irrtümlicherweise würden die Deutschen die tschechische Gesellschaft mit der Polens und Ungarns gleichsetzen. Diese Position verkenne die Offenheit und Diversität der tschechischen Gesellschaft. Babiš sei zwar ein Befürworter der Visegrád-Gruppe gewesen, Tschechien haben aber zunehmend Bereitschaft gezeigt, gesamteuropäische Lösungen anzustreben, statt diese wie seine ungarischen und polnischen Kollegen Orbán und Kaczyński wegen innenpolitischer Probleme zu behindern. Volker Weichsel sah aus diesem Grund auch viele neue Chancen für die tschechische Europapolitik. Energiepolitisch vertrete Prag durchaus mehrheitsfähige Ideen, wie den Ausbau der Atomenergie, der u.a. in Frankreich stark unterstützt wird. Auch in der Migrationspolitik sei die strenge Haltung Tschechiens mittlerweile salonfähig geworden. In beiden Bereichen gebe es mit der Bundesregierung wenig Konsens, aber Deutschland sei hier gesamteuropäisch der Außenseiter, nicht Tschechien.

Im Hinblick auf die Medien sei die Lage in Tschechien deutlich weniger problematisch, als in den anderen Visegrád-Staaten, so Lizcová. Digitalisierung und Polarisierung seien in Tschechien, wie in Deutschland und überall, eine Herausforderung. Allerdings verfüge Tschechien über qualitativ hochwertigen Journalismus, der durchaus freier und unabhängiger sei als in Polen oder Ungarn. Das hätten die Ereignisse des letzten Jahres deutlich gezeigt. Als im Dezember 2021 bekannt gegeben wurde, dass Jitka Obzinová Präsidentin des tschechischen Rundfunks (Český Rozhlas) werden sollte, gab es einen lauten Aufschrei. Obzinová war 2015 als Chefredakteurin von TV Prima in Kritik geraten, weil sie die Berichterstattung über Geflüchtete absichtlich manipulierte und somit gegen den tschechischen Ethikkodex verstieß. Ihre Ernennung wurde zurückgezogen, nachdem über 600 Journalist*innen eine Petition unterschrieben hatten. Dies sei ein gutes Indiz für die Medienfreiheit in Tschechien gewesen, so Lizcová. Innerhalb der Visegrád-Gruppe, aber auch im östlichen Europa, sieht Weichsel Tschechien daher als demokratisches Vorbild. Regelmäßige und friedliche Wahlen, die ausdifferenzierte Medienlandschaft, ein geringes Ausmaß an Populismus seien Zeichen einer gesunden Demokratie und die zeige Tschechien. Das Land sei deswegen ein Schlüsselland, denn es mache deutlich, wie eine positive politische Zukunft trotz historischer Last aussehen kann.

Diese historische Last wurde auch im Zusammenhang mit der Russlandpolitik Tschechiens diskutiert. Weichsel vertrat dabei die Meinung, dass die EU in den Beziehungen zu Russland Tschech*innen mehr Gehör schenken sollte. Während die ungarische Führung Russland gegenüber eine hypokritische Haltung zeige und Polen eine viel zu feindselige, hätten Deutschland und Tschechien eine ausgewogenere und realitätsnahe Haltung entwickelt. Handl wies darauf hin, dass dies nicht immer so war. Erst der 2021 bekanntgegebene Schuldspruch gegen den russischen Geheimdienst im Fall der Munitionsexplosion im tschechischen Vrbětice sei der Kipppunkt gewesen. Dieser habe den russlandfreundlichen tschechischen Präsidenten Miloš Zeman geschwächt.

Generell habe die zunehmende Russlandskepsis zu einer Stärkung der pro-atlantischen Politik Tschechiens geführt, so Lizocvá. Dies sei ohnehin seit der Neugründung der Tschechischen Republik 1993 die wichtigste politische Strömung. Verglichen mit Deutschland sei in Tschechien die Kapitalismus- und Imperialismuskritik an den USA nie wirklich präsent gewesen. Handl sah dies ähnlich, wies aber darauf hin, dass eine zweite Amtszeit Trumps das Verhältnis der gegenwärtig stärkeren ‚Atlantiker‘ im Vergleich zu den schwächeren ‚Europäisten‘ in der Politik umgekehrt hätte. Ähnlich also wie bei der Russlandpolitik konstatierten die Panelist*innen viele Gemeinsamkeiten zwischen Tschechien und Deutschland im Hinblick auf NATO- und EU-Fragen.

Insgesamt kam die Runde zu einem optimistischen Ausblick was die deutsch-tschechischen Beziehung betrifft. Auf der obersten Ebene bleibe die größte Meinungsverschiedenheit die Energiepolitik. Die neu gewählten Koalitionen im tschechischen Abgeordnetenhaus und im deutschen Bundestag brächten neues Leben in die bilateralen Beziehungen. Lizcová hoffte vor allem auf die Wiederbelebung der deutsch-tschechischen Beziehungen auf lokaler Ebene, denn die Coronakrise habe die zusammengewachsenen Gemeinschaften an der deutsch-tschechischen Grenze zumindest mittelfristig versehrt. Für die kommende EU-Ratspräsidentschaft erwartet Handl Pragmatismus, auch von Babiš‘ Partei hofft er derzeit auf eine konstruktive Opposition.

(Lance Bradley)

Datum:
20.01.2022, 19:00 Uhr

Ort:
Botschaft der Tschechischen Republik
Wilhelmstr. 44
10117 Berlin

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

Einladungsflyer (PDF, 198 kB)

Kooperationspartner:
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