Sozialwissenschaften unter autoritären Bedingungen – Russland im Fokus
In Europa wird die Wissenschaftsfreiheit in einigen Staaten zunehmend eingeschränkt. Besonders schwerwiegend ist die Situation in Russland. Während Umstrukturierungen des Wissenschafts- und Hochschulsektors in den letzten zwei Dekaden die Wettbewerbsfähigkeit Russlands auf dem internationalen Wissenschaftsmarkt steigern sollten, wuchs die politische Kontrolle gegenüber Instituten, Fakultäten und einzelnen Wissenschaftler*innen. Spätestens seit dem offenen militärischen Angriff auf die Ukraine im Februar dieses Jahres drohen kritisch arbeitenden Wissenschaftler*innen drakonische Strafen bis zur Inhaftierung.
Welche Handlungsspielräume haben Wissenschaftler*innen in Forschung und Lehre in Russland heute? Welche Möglichkeiten zur Erhebung von Daten und konkret von Meinungsumfragen verbleiben unter den aktuellen Bedingungen? Und wie valide sind die Ergebnisse dieser Umfragen angesichts der wachsenden Repressionen? Welche Konsequenzen haben die Restriktionen für die sozialwissenschaftliche Forschung über Russland außerhalb des Landes? Und was bedeuten Krieg und westliche Sanktionen für internationale wissenschaftliche Kooperationen?
Über diese Fragen diskutieren:
Lev Gudkov, Levada-Zentrum, Moskau
Felix Krawatzek, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin
N. N.
Moderation: Gabriele Freitag, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin
Wir erbitten Ihre Anmeldung zur Diskussion unter:
https://us02web.zoom.us/webinar/register/WN_2QzAAZNyQMOAg27NGDrOOQ
Das Science at Risk Emergency Office (by Akademisches Netzwerk Osteuropa e.V.) wird gefördert durch das Auswärtige Amt.
Veranstaltungsbericht
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkt sich auch auf Russland selbst sowie seinen Verbündeten Belarus aus. Die Regime gehen hart gegen jene vor, die Kritik am Kurs der Präsidenten Putin und Lukaschenka äußern, der Verlust qualifizierter Arbeitskräfte, die vor Repressionen und Mobilmachung fliehen, stellt die Wirtschaft der beiden Länder vor enorme Herausforderungen. Die Online-Diskussionsreihe „Aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Russland und Belarus“, die die DGO gemeinsam mit dem Science-at-risk-Office des Akademischen Netzwerks Osteuropa (akno e.V.) veranstaltet hat, widmete sich daher den Entwicklungen in diesen Ländern aus unterschiedlichen Perspektive.
Die Veranstaltung ''Sozialwissenschaften unter autoritären Bedingungen'' beschäftigte sich mit der Frage, wie sozialwissenschaftliche Forschung unter den in Russland herrschenden autoritären Bedingungen noch möglich ist. Felix Krawatzek vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) verwies darauf, dass die Möglichkeiten, in und über Russland zu forschen, lange sehr gut gewesen seien. Alle modernen Forschungsmethoden konnten angewendet werden und auch von russischer Seite gab es große Bemühungen um bilaterale Kooperationen mit westlichen Partnern. Der 24. Februar sei daher für beide Seiten eine große Zäsur gewesen.
Die Soziologin Anna Sanina betonte vor allem den Verlust der Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus Europa, der auch langfristige Projekte betrifft. Zudem habe man nun keinen Zugriff mehr auch viele technische Instrumente wie Datenbanken oder Videokonferenz-Tools. Die untersuchten Themen hätten sich hingegen für Sozialwissenschaftler*innen in Russland weniger verändert. Westliche Kolleg*innen, so Krawatzek, die der eingeschränkte Zugang zum Feld betreffe, müssten ihre Themen hingegen anpassen. Man konzentriere sich nun vermehrt auf das russischsprachige Ausland. Wichtig sei es, das Feld nicht denjenigen zu überlassen, die eher meinungsstark unterwegs seien.
Mit thematischen und anderen Einschränkungen sei er schon vor dem 24. Februar 2022 konfrontiert gewesen, so Lev Gudkov, Direktor des Moskauer Levada-Zentrums. Die Sozialwissenschaften stünden schon länger unter politischer Kontrolle, seit Februar erlebe man nun den Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits über 20 Jahre andauere. Zur Frage der Validität der in Meinungsumfragen erhobenen Daten bemerkte Gudkov, dass er kaum Verzerrungen feststellen könne. Angesichts der zunehmenden Zensur hätten sich die Menschen aber sowjetische Reaktionen angeeignet und würden versuchen, in ihren Antworten Loyalität zum Regime zu demonstrieren. Vor allem Beamt*innen und ältere Frauen aus der Provinz legten Wert darauf, als loyal angesehen zu werden. Die Jugend wiederum sei indifferent und ziehe sich zurück. Sanina äußerte in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass die vorliegenden Daten, die Realität nicht vollständig abbildeten. Da es aber die einzigen zur Verfügung stehenden Daten seien, sollte man diese auch nutzen.
Veranstaltungsbericht / Aktuelle Entwicklungen in Russland und Belarus (PDF, 364 kB)