Blockade of the Lachin Corridor and the Current State of Armenian-Azerbaijani Relations
Since December 2022, Azerbaijan has been blocking the only supply route to Nagorno-Karabakh, the subject of an unresolved territorial dispute between Baku and Armenia. This blockade has cut off access to food and medical care for the Armenians living there, resulting in catastrophic circumstances that the former chief prosecutor of the International Court of Justice calls “genocide by starvation.” In this panel discussion, three experts will assess the current humanitarian situation and geopolitical changes in the region. Given that the International Court of Justice has asked Baku to end the blockade immediately, these experts will examine the motives and strategies of Azerbaijan; the reaction of Karabakh Armenians and the Armenian government; the policies of the regional powers Russia, Turkey, and Iran; and the options for action by the European Union and United States.
Panelists:
Tom DeWaal, Senior Fellow Specializing in Eastern Europe and the Caucasus Region, Carnegie Europe
Silvia Stöber, Independent Journalist
Stefan Meister, Head of the Center for Order and Governance in Eastern Europe, Russia, and Central Asia, German Council on Foreign Relations (DGAP)
Chair: Volker Weichsel, Deputy Editor-in-Chief, Osteuropa, German Association for East European Studies (DGO)
Veranstaltungsbericht
Bericht: Ella Tschitschigin
Lange befand sich Bergkarabach im Zentrum eines ungelösten Territorialstreits zwischen Aserbaidschan und Armenien. Am 19. und 20. September 2023 startete Aserbaidschan eine groß angelegte Militäroffensive gegen die selbst erklärte Republik Arzach. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs bezeichnete die durch die Blockade des Lachin-Korridors ausgelöste akute humanitäre Krise als "Völkermord durch Verhungern". Die Bevölkerung in Bergkarabach stand vor der Entscheidung zwischen Flucht und Vertreibung. Darüber hinaus befürchteten armenische und ausländische Beobachter*innen, dass Aserbaidschan armenisches Staatsgebiet angreifen könnte, um einen Verbindungskorridor zur aserbaidschanisch besiedelten autonomen Republik Nachitschewan zu schaffen.
Die DGO widmete den Ereignissen in der Region unmittelbar vor und während der Kriegshandlungen zwei Veranstaltungen. Bereits vor dem Einmarsch der aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach war in Kooperation mit der DGAP ein Podium angesetzt worden, um die Motive und Strategien Aserbaidschans zu beleuchten, die Reaktion der Armenier*innen in Karabach zu verstehen und die Politik der regionalen Mächte Russland, Türkei und Iran zu analysieren. Darüber diskutierten Thomas DE WAAL (Carnegie Europe), die unabhängige Journalistin Silvia STÖBER und Stefan MEISTER, (DGAP).
Um die weiteren Ereignisse einzuordnen und zu analysieren fand nach dem aserbaidschanischen Einmarsch in Bergkarabach ein kurzfristig angesetztes Webinar in Kooperation mit Europe Calling e.V. statt. Im Mittelpunkt standen die Lage vor Ort und mögliche Hilfeleistungen. Zu Gast waren erneut Thomas de Waal sowie Narek SUKIASYAN von der American University of Armenia und der Yerevan State University, Shushanik NERSEYAN von der tschechischen Hilfsorganisation "People in Need" in Armenien und Robin WAGENER, Koordinator der Bundesregierung für die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit dem Südkaukasus.
Bergkarabach: Die humanitäre Katastrophe
Bereits die Teilnehmer*innen des ersten Podiums wiesen auf die prekäre Situation in Bergkarabach hin. Stöber berichtete über die dramatische Knappheit von Strom, Gas und Wasser. Auch die Anwesenheit russischer „Peacekeeper" vor Ort habe kaum Einfluss auf die Lage. Die Situation nach der Militäroffensive, so Nerseyan im Webinar, war aber noch deutlich prekärer. Er berichtete von den Zuständen in Goris, der ersten Anlaufstelle für Geflüchtete aus Bergkarabach. Hatte schon vor der Offensive das tägliche Überleben von den letzten verbliebenen Vorräten abgehangen, so hatte sich die Situation innerhalb weniger Tage noch einmal massiv verschlechtert: Menschen kamen ohne Essen und Besitz, zutiefst gebrochen, da sie ihre Heimat verlassen mussten. Die Anreise nach Goris allein dauerte über 24 Stunden. Bei ihrer Ankunft wurden sie von örtlichen Behörden registriert, um sie anschließend in Armenien zu verteilen. Wie es dann weitergehen würde, wisse niemand, betonte Nerseyan.
Die Wurzeln des Bergkarabach-Konflikts
De Waal lieferte an beiden Abenden wichtige Hintergrundanalysen zum Konflikt um Bergkarabach. Es handele sich um einen langwierigen Konflikt, der seit den 1980er Jahren immer wieder entflammt sei. Der Krieg im Jahr 2020 habe schließlich verdeutlicht, dass es keine Zukunft für Armenier*innen in Bergkarabach geben würde.
De Waal, Meister und Stöber waren sich weitgehend einig darin, dass es auf beiden Seiten zu ethnischen Säuberungen gekommen sei. Moderator Volker WEICHSEL von der Zeitschrift Osteuropa fragte daraufhin, ob es überhaupt möglich sei, den Zyklus aus Konflikten und ethnischen Säuberungen zu durchbrechen. De Waal bewertete es als problematisch, dass die Autonomie Bergkarabachs nicht zur Debatte gestanden habe. Es habe kaum Diskussionen über die Schaffung eines autonomen Staates gegeben, obwohl dies angesichts der zunehmend prekären Lage der Bewohner*innen dringlich gewesen sei.
Seine Prognose, dass es keine Zukunft für Armenier*innen in Bergkarabach geben werde, sollte sich wenige Tage später bewahrheiten. Die Unzufriedenheit und die Frustration über den Verlauf der Ereignisse würde sich in Armenien jedoch nicht nur gegen Premierminister Nikol Pashynian richten, sondern auch gegen Russland, von dem man sich verraten fühle. Auch die Türkei habe die Wahl gehabt und sich für Russland und Baku entschieden.
Die Rolle Russlands
Noch vor der Militäroffensive wurden die russischen Friedenstruppen von vielen in Bergkarabach trotz Bedenken als Sicherheitsmaßnahme und stabilisierende Kraft wahrgenommen. Auf die Frage, warum Russland nicht mehr unternommen habe, um Armenien noch vor der Militäroffensive zu unterstützen, verwies Meister auf einen Wandel der russischen Interessen seit 2022. Russland habe bis dahin Truppen in Aserbaidschan, Armenien und Südossetien stationiert; seit 2022 liege der militärische Fokus aber primär auf der Ukraine. Zudem sei Russland auf die Unterstützung der Türkei angewiesen, insbesondere in Bezug auf wirtschaftliche Kooperation. Aufgrund der Partnerschaft zwischen der Türkei und Aserbaidschan habe Russland also gezögert, Armenien weiterhin zu unterstützen. Trotz der Bemühungen des armenischen Premierministers seit der Samtenen Revolution, Distanz zu Russland zu wahren, habe Russland aber insgesamt sein wirtschaftliches Engagement in Zentralasien und im Südkaukasus verstärkt, da der Handel in diesen Regionen zunehmend an Bedeutung gewinne. Auch das Interesse der EU und der USA an der Region wachse stetig.
Mit der Militäroffensive Aserbaidschans habe sich die Lage nun allerdings grundlegend verändert, da die russischen Friedenstruppen nichts dagegen unternommen hätten. De Waal äußerte die Vermutung, dass Russland geheime Verhandlungen mit Baku geführt und zugestimmt habe, sich nach dem Angriff zurückzuhalten. Russland habe die Operation nicht einmal verurteilt, eine Tatsache, die einen deutlichen Bruch in den bisherigen politischen Allianzen zeige und weitreichende Auswirkungen auf die Dynamik in der Region habe.
Die Frage der Verantwortung
Ähnlich wie De Waal verwies auch Meister auf die Komplexität des Konfliktes. Es sei schwierig, eine externe Partei auszumachen, die die Macht habe, den Konflikt zu beeinflussen oder gar zu beenden. Zu viele internationale Akteure seien involviert. Stöber verwies auf die türkische Politik in der Region sowie auf mögliche Auswirkungen des Konflikts an der armenisch-iranischen Grenze.
Auf die Frage nach der Rolle Deutschlands hob Wagener hervor, dass Deutschland auf Diplomatie setzte, um die Situation in Bergkarabach zu beeinflussen. Er verwies auf die gebrochenen Zusagen der Regierung in Baku und auf die humanitäre Notlage, die durch die Militäroffensive noch einmal verschärft wurde. Wagener betonte die Wichtigkeit von Friedensverhandlungen und einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Armenien und Deutschland, um die Situation vor Ort zu verbessern.
Sukiasyan betonte in diesem Zusammenhang, man müsse die Kompromisse, die mit Aserbaidschan eingegangen wurden, nach 30 Jahren als gescheitert ansehen. Dies sei bereits von Expert*innen prognostiziert worden, ohne dass man die Warnungen ernst genommen habe. Wirkliche Konsequenzen habe man aus den Ereignissen aber nicht gezogen, so Sukiasyan. Die USA und die EU hätten lediglich erklärt, den Angriff nicht tolerieren zu können, ohne dabei Druck auf Aserbaidschan auszuüben. Der Westen habe keine Versuche unternommen, Aserbaidschan zurückzuhalten.
Angst vor weiterem Machtstreben Aserbaidschans
Sukiasyan verwies außerdem darauf, dass Aserbaidschan weiterhin den Landkorridor nach Nachitschewan fordere, der durch Armenien verläuft. Er warnte davor, dass dies ohne wirtschaftlichen Druck, z.B. durch Sanktionen, zu weiteren militärischen Aktionen Aserbaidschans führen könnte, an deren Ende die Auslöschung eines ganzen Volkes stehen könnte. Sukiasyan zog dabei Parallelen zur Situation in der Ukraine. In Aserbaidschan seien schon seit langem Vorbereitungen für einen Krieg getroffen worden – auch rhetorisch, wie die Verwendung des Begriffs "West-Aserbaidschan" anstelle von Armenien im aserbaidschanischen Fernsehen gezeigt habe.
Auch Meister hatte bereits betont, dass die Blockade des Lachin-Korridors die „territoriale Integrität Armeniens im Allgemeinen“ betreffe. Vor dem Krieg im Jahr 2020 habe es in Aserbaidschan eine innenpolitische Krise gegeben, der Krieg habe aber zu einer Zunahme der politischen Unterstützung und des Patriotismus sowie einer nationalen Mobilisierung geführt. Zusätzlich werde der demokratische Wandel in Armenien als Bedrohung für die autoritäre Führung in Aserbaidschan betrachtet. Allerdings sehe Aserbaidschan auch Russland kritisch, obwohl beide Länder autoritäre Regime seien.