Die Lage in Bergkarabach
Die Lage im Südkaukasus gibt Anlass zu großer Sorge. Nach dem Einmarsch der Truppen Aserbaidschans in Bergkarabach steht die dortige armenische Bevölkerung vor Flucht oder Vertreibung. Viele Beobachter fürchten, dass Aserbaidschan nun auch armenisches Staatsgebiet angreifen wird, um einen Verbindungskorridor zur Türkei zu schaffen.
Die Lage ist brisant und verschwindet schon wieder aus den Tagesnachrichten. Deswegen laden wir gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde zu diesem Eil-Webinar mit Kenner:innen der Region, um einen besseren Eindruck über die Lage vor Ort und möglichen Hilfen zu gewinnen.
Mit dabei sind:
- Thomas de Waal, Senior Fellow bei Carnegie Europe, spezialisiert auf Osteuropa und die Kaukasus-Region
- Narek Sukiasyan, American University of Armenia and Yerevan State University
- Magdalena Grono (tbc), Senior Foreign Policy Advisor in the Cabinet of the European Council President
- Andrey Kovatchev (tbc), MEP Bulgaria (EPP), Standing Rapporteur on Armenia
- Moderation: Volker Weichsel von der Zeitschrift Osteuropa, und Maximilian Fries von Europe Calling e.V.
Termin: Mittwoch, 27.9.2023, 18:30 – 20:00 Uhr CEST (Berlin/Brüssel)
Aufzeichnung:
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Veranstaltungsbericht
Seit Dezember 2022 kontrolliert Aserbaidschan mit dem Lachin-Korridor eine lebenswichtige Versorgungsroute nach Bergkarabach. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs bezeichnete die durch die Blockade ausgelöste akute humanitäre Krise als "Völkermord durch Verhungern". Lange befand sich Bergkarabach im Zentrum eines ungelösten Territorialstreits zwischen Baku und Armenien. Doch am 19. und 20. September 2023 startete Aserbaidschan eine groß angelegte Militäroffensive gegen die selbst erklärte Republik Arzach. Plötzlich stand die Bevölkerung in Bergkarabach vor der Entscheidung zwischen Flucht und Vertreibung. Derweil befürchten Beobachter*innen, dass Aserbaidschan armenisches Staatsgebiet angreifen könnte, um einen Verbindungskorridor zur Türkei zu schaffen.
Die DGO hat sich intensiv mit den Ereignissen in der Region befasst und diesen zwei Veranstaltungen gewidmet. Bereits vor dem Einmarsch der aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach war Kooperation mit der DGAP ein Podium angesetzt worden, um die Motive und Strategien Aserbaidschans zu beleuchten, die Reaktion der Armenier*innen in Karabach zu verstehen und die Politik der regionalen Mächte Russland, Türkei und Iran zu analysieren. Auf dem Podium saßen Thomas DE WAAL (Carnegie Europe), die unabhängige Journalistin Silvia STÖBER und Stefan MEISTER, (DGAP).
Um die weiteren Ereignisse einzuordnen und zu analysieren wurde kurz nach dem aserbaidschanischen Einmarsch ein kurzfristiges Eil-Webinar in Kooperation mit Europe Calling e.V. organisiert. Im Mittelpunkt standen die Lage vor Ort und mögliche Hilfeleistungen .Zu Gast waren erneut Thomas de Waal sowie Narek SUKIASYAN von der American University of Armenia und der Yerevan State University, Shushanik NERSEYAN von der tschechischen Hilfsorganisation "People in Need" in Armenien und Robin WAGENER, Koordinator der Bundesregierung für den Südkaukasus.
Bergkarabach: Die humanitäre Katastrophe im Herzen des Kaukasus
Die erschütternde Situation in der Region trat im Eil-Webinar besonders deutlich zutage, auch wenn die Teilnehmer*innen des DGAP-Podiums bereits auf die prekäre Situation in Bergkarabach hingewiesen hatten. So hatte Stöber u.a. auf die dramatische Knappheit von Strom, Gas und Wasser verwiesen. Der Lachin-Korridor sei seit dem vergangenen Jahr nahezu vollständig blockiert und auch die Anwesenheit russischer „Peacekeeper" vor Ort habe die Lage nicht wirklich verändert. Die Situation nach der Militäroffensive, wie sie Nerseyan im Eil-Webinar schilderte, erschien aber noch deutlich prekärer. Er berichtete von den Zuständen in Goris, der ersten Anlaufstelle für Geflüchtete aus Bergkarabach. Hatte schon vor der Offensive tägliche Überleben von den letzten verbliebenen Vorräten abgehangen, so hatte sich die Situation innerhalb weniger Tage noch einmal massiv verschlechtert: Menschen kämen ohne Essen und Besitz, zutiefst gebrochen, da sie ihre Heimat verlassen mussten. Die Anreise nach Goris allein dauere über 24 Stunden. Bei ihrer Ankunft würden die örtlichen Behörden sie erfassen, um sie anschließend in Armenien zu verteilen. Wie es dann weitergehen würde, wisse niemand, betonte Nerseyan.
Die Wurzeln des Bergkarabach-Konflikts
De Waal lieferte an beiden Abend wichtige Hintergrundanalysen zum Konflikt um Bergkarabach. Es handele sich um einen langwierigen Konflikt, der seit den 1980er Jahren, genauer gesagt seit 1988, immer wieder aufflammen würde. Beide Seiten hätten ihre Positionen standhaft vertreten, würden gleichzeitig aber auch viele kulturelle Aspekte teilen. De Waal fügte hinzu, dass das 20. Jahrhundert von Nationalismus in der gesamten Region, einschließlich des Südkaukasus und Bergkarabachs, geprägt gewesen sei. Der Krieg im Jahr 2020 habe schließlich verdeutlicht, dass es keine Zukunft für Armenier*innen in Bergkarabach geben würde.
Das DGAP-Podium war sich weitestgehend einig darin, dass auf beiden Seiten zu ethnischen Säuberungen gekommen sei. Moderator Volker WEICHSEL (Zeitschrift Osteuropa) warf daraufhin die Frage auf, ob es überhaupt möglich sei, den Zyklus aus Konflikten und ethnischen Säuberungen zu durchbrechen. De Waal antwortete darauf, dass die Autonomie zu diesem Zeitpunkt nicht zur Debatte gestanden habe. Es habe kaum eine Diskussionen über die Schaffung eines autonomen Staates gegeben, obwohl dies angesichts der zunehmend prekären Lage der Bewohner*innen dringlich gewesen sei. De Waal beschrieb die Situation als unsicher und gefährlich.
Seine düstere Prognose, dass es keine Zukunft für Armenier*innen in Bergkarabach geben werde, sollte sich wenige Tage später bewahrheiten. Im Eil-Webinar prognostizierte er, dass die Mehrheit der Armenier*innen vor der Eskalation des Konflikts fliehen werde. Trotz zahlreicher diplomatischer Bemühungen werde der Konflikt mit Flucht und Vertreibung enden. Die Unzufriedenheit und der Frust über den Verlauf der Ereignisse würde sich in Armenien jedoch nicht nur gegen Premierminister Nikol Pashynian richten, sondern auch gegen Russland, von dem man sich verraten gefühlt habe. Auch die Türkei habe die Wahl gehabt und sich für Russland und Baku entschieden, so De Waal.
Die Rolle Russlands
Noch vor der Militäroffensive wurden die russischen Friedenstruppen von vielen trotz Bedenken als Sicherheitsmaßnahme und stabilisierende Kraft wahrgenommen. Auf die Frage nach der Rolle Russlands in diesem Konflikt und warum Russland nicht mehr unternommen habe, um Armenien noch vor der Militäroffensive zu unterstützen, verwies Meister bei der DGAP auf einen Wandel der russischen Interessen seit 2022. Russland habe Truppen in Aserbaidschan, Armenien und Südossetien stationiert gehabt, seit 2022 liege der Fokus aber primär auf der Ukraine. Zudem sei Russland auf die Unterstützung der Türkei angewiesen, insbesondere in Bezug auf wirtschaftliche Kooperation und Sanktionen. Aufgrund der Partnerschaft zwischen der Türkei und Aserbaidschan habe Russland also gezögert, Armenien weiterhin zu unterstützen. Trotz der Bemühungen des armenischen Premierministers seit der Samtenen Revolution, Distanz zu Russland zu wahren, habe Russland aber insgesamt sein Engagement in Zentralasien und im Südkaukasus verstärkt, da der Handel in diesen Regionen zunehmend an Bedeutung gewinne. Auch das Interesse der EU und der USA an der Region wachse stetig.
Mit der Militäroffensive Aserbaidschans habe sich die Lage allerdings grundlegend verändert, da die russischen Friedenstruppen nichts dagegen unternommen hätten. De Waal äußerte im Eil-Webinar die Vermutung, dass Russland geheime Verhandlungen mit Baku geführt und zugestimmt habe, sich nach dem Angriff zurückzuhalten. Russland habe die Operation nicht einmal verurteilt, eine Tatsache, die einen deutlichen Bruch in den bisherigen politischen Allianzen zeige und weitreichende Auswirkungen auf die Dynamik der Region habe.
Die Frage der Verantwortung
Ähnlich wie De Waal verwies auch Meister bei der Diskussion in der DGAP auf die Komplexität des Konfliktes. Es sei schwierig, eine externe Partei auszumachen, die die Macht habe, den Konflikt zu beeinflussen oder gar zu beenden. Zu viele internationale Akteuren involviert. Stöber kam auf die türkische Politik in der Region zu sprechen sowie auf mögliche Auswirkungen der Probleme an der armenisch-iranischen Grenze. Sie unterstrich die Bedeutung von vor Ort anwesenden Beobachter*innen, die einen positiven Einfluss auf die Stabilisierung der Lage in der Region haben könnten.
Im Eil-Webinar wurde auch die deutsche Rolle diskutiert. Wagener hob hervor, dass Deutschland auf Diplomatie setzte, um die Situation in Bergkarabach zu beeinflussen. Er betonte die gebrochenen Zugeständnisse der Regierung in Baku und wies auf die humanitäre Notlage hin, die bereits durch die aserbaidschanische Blockade entstanden sei und die durch die Militäroffensive noch einmal verschärft wurde. Wagener betonte die Wichtigkeit von Friedensverhandlungen und einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Armenien und Deutschland, um die Situation vor Ort zu verbessern.
Zerstörung und Leid nach der Militäroffensive
Im Zuge der Militäroffensive aus Bergkarabach seien bereits 40.000 Menschen aus der Region vertrieben worden, wusste Sukiasyan im Eil-Webinar zu berichten. Mehrfach betonte er, dass die Situation vor Ort äußerst prekär sei. Krankenwagen hätten keinen Treibstoff mehr, was die Evakuierung von Verwundeten von der Front verhindere. Offiziell seien über 200 Todesfälle bestätigt, inoffiziell könnte die Zahl jedoch höher liegen. Die Informationsbeschaffung gestalte sich als schwierig, da Baku den Rundfunk angegriffen und die Kommunikation, einschließlich Telefonverbindungen, in Bergkarabach stark eingeschränkt habe – sogar in Stepaniak. Dem seien zudem zehn Monaten der Hungersnot und des Mangels an grundlegenden Versorgungsgütern wie Benzin vorausgegangen. Die Kompromisse, die mit Aserbaidschan eingegangen wurden, müsse man nach 30 Jahren als gescheitert ansehen, was von Expert*innen prognostiziert worden sei, ohne dass man dies ernst genommen habe. Wirklich Konsequenzen habe man aus den Ereignissen aber nicht gezogen, so Sukiasyan. Die USA und die EU hätten lediglich erklärt, den Angriff nicht tolerieren zu können, ohne dabei Druck auf Aserbaidschan auszuüben. Der Westen habe keine Versuche unternommen, Aserbaidschan zurückzuhalten.
Angst vor weiterem Machtstreben Aserbaidschans
Sukiasyan verwies darauf, dass Aserbaidschan weiterhin den Landkorridor nach Nachitschewan fordere, der durch Armenien verläuft. Er warnte davor, dass dies ohne wirtschaftlichen Druck, z.B. durch durch Sanktionen zu weiteren militärischen Aktionen Aserbaidschans führen könnte, an deren Ende die Auslöschung eines ganzes Volk stehen könnte. Sukiasyan zog dabei Parallelen zur Situation in der Ukraine. In Aserbaidschan seien schon seit langem Vorbereitungen für einen Krieg getroffen worden – auch rhetorisch, wie die Verwendung des Begriffs "West-Aserbaidschan" anstelle von Armenien im aserbaidschanischen Fernsehen gezeigt habe.
Bereits in der Diskussion bei der DGAP hatte Meister auf diese Tatsache hingewiesen und betont, dass die Blockade des Lachin-Korridors die „territoriale Integrität Armeniens im Allgemeinen" betreffe. Vor dem Krieg im Jahr 2020 hatte es in Aserbaidschan eine innenpolitische Krise gegeben, der Krieg hatte aber zu einer Zunahme der politischen Unterstützung und Patriotismus sowie einer nationalen Mobilisierung geführt. Zusätzlich würde der demokratische Wandel in Armenien als Bedrohung für die autoritäre Führung in Aserbaidschan betrachtet. Gleichzeitig sehe Aserbaidschan auch Russland kritisch, obwohl beide Länder autoritäre oder totalitäre Regime aufwiesen.
Stöber unterstrich auf dem DGAP-Podium die Notwendigkeit einer verstärkten Unterstützung für Armenien und plädierte für mehr Sanktionen und Beschränkungen gegenüber Aserbaidschan, insbesondere da Russland als bisher stärkster Unterstützer von Armenien zurücktrete. Sie betonte erneut die entscheidende Rolle unabhängiger Beobachter*innen als ersten Schritt zur Stabilisierung der Lage. De Waal betonte die Notwendigkeit von Diskussionen über eine internationale Mission zur Abrüstung und zur Förderung friedlicher Lösungen. Verschiedene Vorschläge lägen bereits auf dem Tisch. Angesprochen auf die Rolle der EU bemerkte Meister, dass die EU bis dato nicht aktiv in den Konflikt involviert gewesen sei, aber die Bedeutung der Union in jüngster Zeit zugenommen habe. Er forderte ein verstärktes Engagement der EU, betonte wie Stöber die Bedeutung der Beobachtungsmission, wies jedoch darauf hin, dass diees allein nicht ausreiche.