Forum für historische Belarus-Forschung

Krieg und Gewalt

Aufarbeitungen in der belarusischen Literatur

Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ist das zentrale Thema der belarusischen Nachkriegsliteratur. Die literarischen Verarbeitungen des Krieges waren dabei auch immer von den politischen Rahmenbedingungen ihrer Entstehungszeit abhängig. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Vorgaben der offiziellen Erinnerungskultur der Sowjetunion leitend, die einen spezifischen Blickwinkel auf den Krieg einforderten. Der Sieg über den Faschismus sollte als möglichst widerspruchsfreier Beleg für die Überlegenheit des sowjetischen Systems gelesen werden. Das belarusische Volk wurde als eine Nation sowjetischer Partisanen dargestellt, die heldenmutig ihren Beitrag zum großen Sieg leistete. Für Uneindeutigkeiten war in diesem Bild kein Platz, somit blieben viele der Traumata, die der Krieg hinterließ, im öffentlichen Diskurs lange randständig. Bis heute dominiert der Heldendiskurs das offizielle belarusische Geschichtsnarrativ.

Dennoch bemühten sich viele Schriftsteller*innen um ein komplexeres Bild der Kriegszeit. So beschäftigte sich der ehemalige Frontsoldat Vasil‘ Bykaǔ in seinen Erzählungen mit einer Kriegserfahrung außerhalb der großen Siege, mit dem Erleben einfacher Soldaten und einer Perspektive von unten. Ales‘ Adamovič arbeitete eine Poetik der Zeugenschaft heraus, in der sich eine Polyphonie widersprüchlicher Sichtweisen auf den Krieg abzeichnet. Genau das entwickelte später Sviatlana Aleksievič zum Arrangement ungehörter, direkt dem sowjetischen Geschichtsbild widersprechender Stimmen weiter.

Das Forum für historische Belarus-Forschung möchte einen genaueren Blick auf die Darstellung von Krieg und Gewalt in der belarusischen Nachkriegsliteratur werfen und ihre Bedeutung bis in die Gegenwart hinein beleuchten. Dazu diskutieren wir mit der Schriftstellerin und Jerzy-Giedroyc-Preisträgerin Sviatlana Kurs und Literaturwissenschaftlerin Nina Weller unter anderem diese Fragen: Wie wurde die Gewalterfahrung im Zweiten Weltkrieg in der sowjetischen und postsowjetischen Literatur verarbeitet? Welche Rolle spielte die sowjetisch-belarusische Literatur bei der Ausbildung eines oppositionellen Denkens? Wo bestehen heute Kontinuitäten, wo passiert Neues? Welche Neubewertungen der Vergangenheit finden heute statt und welche Sprache wird für die Komplexität der Gewalt gefunden?

Einleitung

Alesja Belanovich-Petz
Forum für historische Belarus-Forschung

Expertinnen
Eva Viežnaviec (Sviatlana Kurs)
Schriftstellerin

Nina Weller
Literaturwissenschaftlerin, Slawistin

Moderation
Jakob Wunderwald
Universität Potsdam

+++++++++++++

Вайна і гвалт праз прызму беларускай літаратуры

Вопыт Другой сусветнай вайны – цэнтральная тэма беларускай літаратуры. Пры гэтым літаратурнае асэнсаванне вайны заўсёды залежала ад канкрэтных палітычных абставін свайго часу. Так, адразу пасля вайны панавалі зададзеныя афіцыйнай савецкай культурай памяці ўяўленні, якія патрабавалі спецыфічнага погляду на вайну. Перамога над фашызмам мусіла служыць бясспрэчным доказам перавагі савецкай сістэмы, а беларускі народ мусіў паказвацца як нацыя савецкіх партызан, якія гераічна рабілі свой унёсак у перамогу. У гэтай карціне няма месца для шматзначнасці, таму многія ваенныя траўмы засталіся на ўскрайку публічнай увагі. Гераічны дыскурс па сёння вызначае афіцыйны гістарычны наратыў у Беларусі.

Тым не менш многія пісьменніцы і пісьменнікі імкнуліся адлюстраваць вайну ў яе складанасці і неадназначнасці. Васіль Быкаў, сам былы франтавік, паказваў праўду вайны, аддаленую ад вялікіх перамог, убачаную вачыма простых салдат. Алесь Адамовіч распрацаваў паэтыку сведчанняў, у якіх гучыць поліфанія супярэчлівых поглядаў на вайну. Менавіта гэту паэтыку развівала Святлана Алексіевіч, даючы магчымасць выказацца галасам, якія не пасавалі да савецкай гістарычнай карціны.

Форум гістарычных даследаванняў Беларусі імкнецца засяродзіцца на асэнсаванні вайны і гвалту ў беларускай пасляваеннай літаратуры ды адсачыць яго значэнне да сённяшняга дня. Лаўрэатка прэміі Ежы Гедройца-2021 Ева Вежнавец (Святлана Курс) і літаратуразнаўца Ніна Вэлер абмяркуюць наступныя пытанні: як савецкая і постсавецкая літаратура асэнсоўвала гвалт Другой сусветнай вайны? Якую ролю адыгрывала савецкая беларуская літаратура ў станаўленні апазіцыйнага мыслення? Дзе можна адсачыць пераемнасць, дзе ўзнікае новае? Як мінулае пераасэнсоўваецца сёння і якая мова служыць для апісання гвалту ва ўсёй яго складанасці?

Уступнае слова:

Алеся Белановіч-Пэтц
Форум гістарычных даследаванняў Беларусі

Эксперткі:
Ева Вежнавец (Святлана Курс)
Пісьменніца

Ніна Вэлер
Літаратуразнаўца, славістка

Мадэрацыя:
Якаб Вундэрвальд
Універсітэт Патсдама


Veranstaltungsbericht

Der Zweite Weltkrieg war für Belarus nicht nur das Tragischste, sondern nach der Staatsgründung auch das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts, lautet die Analyse des belarusischen Schriftstellers Waljanzin Akudowitsch. Mit diesem Statement eröffnete Jakob WUNDERWALD, Moderator und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam, die Online-Diskussion zum Thema „Aufarbeitungen von Krieg und Gewalt in der belarusischen Literatur“. Denn der belarusische literarische Diskurs der Vergangenheit und Gegenwart wird von den Ereignissen zwischen 1941 und 1945 überschattet. Zumal unter den Vorzeichen des jüngsten staatlichen Terrors beschäftigt das Thema der Gewalt viele zeitgenössische belarusische Schriftsteller*innen.

Im Gespräch mit der Schriftstellerin und Jerzy-Giedroyc-Preisträgerin Swjatlana KURS und der Literaturwissenschaftlerin Nina WELLER wurde daher ergründet, wie die Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkriegs in der sowjetischen und postsowjetischen Literatur verarbeitet worden sind. Gleichzeitig ging es um die Frage, welche Rolle die sowjetisch-belarusische Literatur bei der Ausbildung eines oppositionellen Denkens spielte. Und schließlich: Wo bestehen heute Kontinuitäten, wo passiert etwas Neues?

Belarusische Erinnerungspolitik der Nachkriegszeit

Zur Kontextualisierung schilderte Weller eingangs die Situation von Belarus während des Zweiten Weltkrieges. Grundsätzlich ließe sich festhalten, dass keiner anderen Sowjetrepublik unter der Besatzung der Wehrmacht von 1941 und 1945 in dem Ausmaß Leid widerfahren sei. Insbesondere im Rahmen der „Politik der verbrannten Erde“ seien 2,2 bis 3 Millionen Belarus*innen ermordet worden, was ein Drittel der belarusischen Bevölkerung ausmache. Symbolisch hierfür sei das Massaker von Chatyn, bei dem ein komplettes Dorf ausgelöscht wurde. Aber die belarusische Bevölkerung habe nicht nur unter den Verbrechen der Wehrmacht gelitten, sondern auch unter der Politik der Sowjetisierung in den 1930er Jahren und den Repressionen des sowjetischen Regimes in der Nachkriegszeit.

Trotz dieser doppelten Gewalterfahrung dominierte der sogenannte Partisanenmythos die belarusisch-sowjetische Erinnerungspolitik. Er bediente ein Narrativ der heroischen Verteidigung der sowjetischen Heimat. Der nationale, belarusische Widerstand spielte Weller zufolge zwar eine tragende Rolle für den Sieg über den Faschismus, wurde aber in einen sowjetischen Gesamtkontext eingebettet. Ausgeklammert wurden indes die persönlichen Erfahrungen, der Holocaust sowie die Gewalt der Partisanen gegen die eigene Bevölkerung.

Die belarusische Nachkriegsliteratur (de)konstruiert den Partisanenmythos

Der Partisanenmythos wurde von den Schriftsteller*innen der Zeit wie Wassil Bykau oder Ales Adamowitsch aktiv mitkonstruiert. Doch laut Weller ließe sich die Rolle der Autor*innen nicht auf die eines Instruments der sowjetischen Kulturpolitik reduzieren. Als Zeug*innen und Teilnehmer*innen des Zweiten Weltkrieges verarbeiteten sie ihre eigenen Erfahrungen, durften bzw. wollten zugleich den Heldenmythos aber nicht diskreditieren. An die Werke von Autor*innen wie Bykau dürfte keine binäre Logik von Schuld oder Unschuld herangetragen werden. Sie warfen häufig moralische Dilemmata auf, die die komplexe Realität des Lebens im Krieg sowie die Verwobenheit des Guten und Bösen widerspiegeln.

Die Darstellung der Komplexität gelang insbesondere Schriftsteller*innen wie Adamowitsch oder auch Janka Bryl mithilfe einer neu entstandenen Poetik des Dokumentarischen, welche die Perspektive des Subjekts in den Mittelpunkt rückte. So reisten Adamowitsch und Bryl durch die verbliebenen Dörfer, ließen Menschen ihre Geschichten erzählten und hielten sie in ihrer Mündlichkeit schriftlich fest. Dem kollektiven Gedächtnis wurden die individuellen Schicksale „zurückgegeben“, stellte Weller fest. Das Erbe dieses dokumentarischen Stils lasse sich heute prominent bei Autor*innen wie Swetlana Alexijewitsch wiederfinden.

Das Anliegen jener Schriftsteller*innen sei sicherlich nicht als anti-sowjetisch zu verstehen, so Weller. Als Anhänger*innen des Sozialismus versuchten Schriftsteller*innen wie Adamowitsch, innerhalb des Systems individuellen Stimmen zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch in diesem Versuch stießen einige an die Grenzen des Systems, ihre Werke wurden zensiert. Nichtsdestotrotz galt etwa für Adamowitsch die Verantwortung des literarischen Schaffens gegenüber der Gesellschaft. Diese Verantwortung übersetzte er im Laufe seines Lebens in einen politischen Aktivismus.

Widerwilliges Schreiben über die Gewalt von gestern und heute  

Somit schufen die Schriftsteller*innen der Nachkriegsgeneration eine Tradition des dokumentarischen Schreibens über den Krieg, über die Gewalt. Wunderwald fragte die Schriftstellerin Kurs vor diesem Hintergrund, inwiefern die sowjetischen Schriftsteller*innen ihren eigenen literarischen Werdegang geprägt hätten. Kurs konstatierte, dass sie sich als Schriftstellerin ursprünglich „gegen“ Adamowitsch und Bykau habe positionieren wollen. Wegen ihrer eigenen Familiengeschichte seien ihr deren Themen zu schmerzhaft gewesen. Sie wollte diese Werke nicht lesen.

Eine Ironie – oder vielleicht eher Tragödie – des Schicksals führte jedoch dazu, dass Kurs einen literarischen Preis gerade für einen Text über ihre von den Deutschen verbrannten Vorfahren erhielt. In den 1990ern habe ihre Generation plötzlich Freiheit eingeatmet, wollte kreativ werden, den Krieg hinter sich lassen. Das repressive Regime Lukaschenkas und Russlands Aggressionen ließen dies aber nicht zu. Auch junge Literat*innen mussten wieder über den Krieg, die Gewalt, den Schmerz schreiben.

Kurs zufolge musste ihre Generation eine eigene Sprache für die Beschreibung des Kriegs finden. Diese Sprache sei aus ihrer Sicht noch näher an den Menschen und ihren Emotionen. Kurs führte hier beispielhaft Autor*innen wie Andrej Chadanowitsch oder Wolha Hapejewa an, die nicht nur die belarusischen Erfahrungen dokumentierten, sondern auch den „ukrainischen Schmerz ins Belarusische übersetzen“. Ein großes Anliegen der zeitgenössischen Autor*innen sei außerdem die Enttarnung des Faschismus in all seinen „Masken“, unter denen er sich verstecke. Damit verwies sie auch unmittelbar auf den russischen Geschichtsrevisionismus.

Historisch unikal sei die Situation ihrer Schriftsteller*innengeneration dahingehend, dass sie die „ganze Wahrheit“ schreiben könnten – nicht nur über die aktuelle Situation, sondern über den Zweiten Weltkrieg, über den noch nicht alles gesagt sei. Der Grund dafür ist ein offensichtlicher: Die allermeisten regimekritischen belarusischen Autor*innen wohnen inzwischen im Ausland.

Und noch ein weiteres historisches Moment bestimmt das Schaffen der Generation um Kurs: Das neue Trauma der Gewalt, welches Lukaschenkas Regime den Belarus*innen zugefügt hat. Ähnlich wie das Kriegstrauma wird auch dieses vermutlich über Generationen weitergegeben und muss immer wieder beschrieben und damit verarbeitet werden.

Gewalt als einziges Thema der belarusischen Literatur?

Mit kritischem Blick auf den deutschen Literaturmarkt stellte Wunderwald zur Diskussion, ob belarusische Literatur, die sich nicht mit Gewalt auseinandersetzt, ähnlich viel Aufmerksamkeit bekäme. Weller stimmt Wunderwald zu, dass Belarus als „Katastrophenland“ eher marktfähig sei und sich die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs auch anderen Themen widmen könnte. Gleichzeitig, so Weller, seien selbst im Themenkomplex Zweiter Weltkrieg und Gewalt unzählige Werke nicht übersetzt worden. Damit verwies sie auf die allgemeine Unsichtbarkeit belarusischer Literatur.

Aus dem Publikum kam schließlich die Frage, in welchen Räumen nach den Ereignissen von 2020 überhaupt noch ein literarischer Diskurs stattfinden könne. Weller versteht vor allem belarusische Literaturcommunitys im Ausland sowie im Internet als die wichtigsten Foren. Sie zeigte sich beeindruckt davon, dass nach wie vor Literaturpreise vergeben und -festivals stattfänden und so der literarische Diskurs nicht abbreche. Kurs ergänzte an dieser Stelle, dass trotz des hohen Maßes an Selbstorganisation externe Unterstützung unabdingbar sei, was aber auch schon vor 2020 der Fall gewesen sei. Besonders die Vernetzung online empfand sie als fruchtbar, da so eine nachhaltigere Weitergabe von Wissen sichergestellt werden könne.

Für die Zukunft formulierte Kurs den Wunsch, dass die Belarus*innen nicht ihr ganzes Leben in der Schwebe zwischen Gut und Böse verbringen müssten. Auch sie seien doch Genussmenschen und hätten genug Gründe, sich zu freuen. Es ginge nicht darum, sich als belarusische Autor*innen vom Schatten abzuwenden, aber sie wünsche sich mehr Licht für ihr Schaffen.

Datum:
28.02.2023, 17:00 Uhr bis 18:30 Uhr

Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.

Sprache(n):
Deutsch und Belarusisch, simultan gedolmetscht

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Kooperationspartner:
Logo Kooperationspartner