Wiedervorlage beim nächsten Krieg? Zur Relevanz und Zukunft der Ostkirchenkunde
Die Ostkirchenkunde ist in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland institutionell erheblich geschwächt worden. Oft waren es die Lehrstühle für Ostkirchenkunde, die den Sparmaßnahmen an Theologischen Fakultäten als erste zum Opfer fielen. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat den Bedarf an solider Forschung über den kirchlichen Kontext deutlich gezeigt. Aber nicht nur wegen dieser aktuellen Entwicklungen stellt sich die Frage, was die Ostkirchenkunde im 21. Jahrhundert ausmacht. Es gilt vielmehr grundsätzlich zu klären, welche Aufgaben sie im Zeitalter der Ökumene und angesichts radikal veränderter politischer Rahmenbedingungen in den ehemaligen Ostblockstaaten übernehmen soll.
Vor diesem Hintergrund soll das Fachgespräch die Möglichkeit eröffnen, die Ostkirchenkunde als Disziplin zu erörtern und ihr wissenschaftliches, theologisches, kirchliches wie politisches Potential für die Zukunft auszuloten. Eingeladen sind Fachvertreter*innen der Ostkirchenkunde im deutschsprachigen Bereich, Kolleg*innen der Osteuropawissenschaften und der Wissenschaftsförderung, sowie alle Interessierten.
Programm:
14:00 Begrüßung
14:15 – 15:30 Wo steht die Ostkirchenkunde, und wo will sie hin?
Prof. Dr. Karl Pinggèra (Universität Marburg)
Prof. Dr. Thomas Kremer (Katholische Universität Eichstätt)
Jun.-Prof. Dr. Stanislau Paulau (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
Moderation: Prof. Dr. Jennifer Wasmuth (Universität Göttingen)
15:30 – 16:00 Pause
16:00 – 17:45 Wer braucht Ostkirchenkunde?
Prof. Dr. Detlef Pollack (Universität Münster)
Prof. Dr. Katharina Bluhm (Freie Universität Berlin)
Nedim Sulejmanović (Stellvertretender Leiter der Abteilung Religionen und Außenpolitik im Auswärtigen Amt)
Moderation: Dr. Regina Elsner (Universität Münster)
17:45 – 18:00 Ausblick
Veranstaltungsbericht
Die Sprecher*innen der DGO-Fachgruppe Religion, Regina Elsner und Jennifer Wasmuth, luden am 1. Dezember 2023 zu einem Fachgespräch über die Ostkirchenkunde in die Räume der Hansabibliothek in Berlin ein. Die Ostkirchenkunde steht vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits hat die Streichung von zahlreichen Lehrstühlen in den letzten Jahren zu einer institutionellen Schwächung des Faches geführt. Andererseits ist die Nachfrage nach ostkirchenkundlicher Expertise infolge des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und weiterer geopolitischer Konflikte, die die Kirchen der östlichen Tradition direkt involvieren, gestiegen. Das Fachgespräch zielte vor diesem Hintergrund auf eine Standortbestimmung ab, die zugleich Perspektiven für die Zukunft eröffnet.
Um die Binnen- wie die Außenperspektive beleuchten zu können, fanden zwei Gesprächsrunden statt: Zunächst waren Fachvertreter aus der evangelischen, katholischen wie orthodoxen Theologie eingeladen, ihr Verständnis von Ostkirchenkunde darzulegen. Den Auftakt machte Karl PINGGERA (Marburg), der die Ostkirchenkunde als Fach in einem sich dramatisch ändernden Spannungsfeld von Kirche, Universität und Gesellschaft beschrieb und sie mit Verweis auf den Orientalisten Alexander Böhlig (1912-1996) als „Dienstleistungswissenschaft“ charakterisierte. Thomas KREMER (Eichstädt) betonte in seinem Impulsreferat die Vielfalt des orthodoxen Christentums, die inhaltlich wie methodisch die Frage aufwerfe, ob es sich bei der Ostkirchenkunde nur um ein Fach oder nicht vielmehr eine Fakultät handle. Anhand des von der Volkswagenstiftung umfangreich geförderten Projekts eines „Eastern Christian Studies Online Campus“ zeigte er zudem die Möglichkeiten einer digital vernetzten Ostkirchenkunde auf. Stanislau PAULAU schließlich verwies auf die enge Verzahnung der Ostkirchenkunde mit anderen Disziplinen („keine Ost- ohne Westkirchenkunde“, „keine Christentumsgeschichte ohne Geschichte des christlichen Ostens“) und sprach sich dafür aus, die Ostkirchenkunde als „kleines Fach“ bei dem Evangelisch- wie Katholisch-Theologischen Fakultätentag zu etablieren. Diese Idee wurde in der sich anschließenden regen Diskussion der Referate mit Zustimmung aufgenommen. Kontrovers hingegen wurde der Vorschlag diskutiert, ein Querschnittsmodul „Orientalistik“ in die Studienordnungen einzuführen, das von den Fakultäten jeweils gemeinsam verantwortet wird.
Weiterführend waren auch die Referate im zweiten Teil des Fachgesprächs: Katharina BLUHM (Berlin) präsentierte als Soziologin einen Fragenkatalog mit Themen, die von ihrer Forschungserfahrung her seitens der Ostkirchenkunde in Zukunft stärker in den interdisziplinären Diskurs eingebracht werden sollten. Dazu gehören etwa Themen wie „Kirche und Militär“, „Kirche und Imperium“, die Rolle der Altgläubigen oder auch die kirchliche Situation in der Ukraine. Detlef POLLACK (Münster) monierte, dass aus religionssoziologischer Perspektive in der Ostkirchenkunde empirisches Material zu wenig Beachtung findet und über eine Vielzahl an historischen Detailstudien die Anschlussfähigkeit an übergreifende Diskussionszusammenhänge (wie z.B. zu Themen wie „Nation“ oder „Demokratie“) nicht ausreichend gegeben sei. Nedim SULEJMANOVIć, Stellvertretender Leiter der Abteilung Religionen und Außenpolitik im Auswärtigen Amt, betonte die Bedeutung des religiösen Faktors insbesondere in Osteuropa und unterstrich die Relevanz des Faches. Er verband damit die Erwartung, Ergebnisse ostkirchenkundlicher Forschung stärker in einer Weise zu kommunizieren, die sie für politische Entscheidungsprozesse verwendbar macht. Inwieweit die Ostkirchenkunde den in den Referaten formulierten Erwartungen gerecht werden kann, war Gegenstand einer abschließenden intensiven Diskussion.
Generell wurden die Impulse als Stärkung des Faches und Ermutigung empfunden, die disziplinäre Profilierung weiter voranzutreiben. Die Fachgruppe wird in engem Austausch mit den Fachvertreter*innen im deutschsprachigen Bereich weitere Schritte zur Sichtbarkeit und Vernetzung der Ostkirchenkunde im nächsten Jahr fortsetzen.