Belarus 23.34
Belarus 23.34 handelt von Belarus*innen, die brutale Repressionen des Regimes erleiden mussten. 25 mutige Menschen erzählen, wie sie im August bis Dezember 2020 Verhaftungen und Folter durchlebten, schildern ihre Gefühle und was sich ihrer Meinung nach in der belarusischen Gesellschaft verändert hat. Der Film zeichnet den Weg eines Demonstranten nach: Demomarsch und Verhaftung, Fahrt im Gefangenentransporter, Registrierung auf der Polizeiwache, Prozess, Gefängnis, Entlassung und Verarbeitung des Erlebten.
Belarus 23.34 wurde vom Bulbamovie Festival und dem Polska Filmoteka Narodowa ausgezeichnet.
Im Anschluss an die Vorführung diskutieren die Regisseurin Tania Svirepa, zwei Protagonist*innen des Films und der Völkerrechtsexperte Arne Bardelle (ECCHR) mit Volker Weichsel (DGO) und beantworten Fragen aus dem Publikum.
Sie haben die Möglichkeit, sich an einer Unterschriftenaktion für einen weiteren Protagonisten zu beteiligen, der in Belarus im Gefängnis sitzt.
Warnung! Der Film enthält Darstellungen von körperlicher Gewalt.
Veranstaltungsbericht
Bericht: Marc Rieger
Der Dokumentarfilm Belarus 23.34 setzt an zum Zeitpunkt der Proteste in Belarus 2020, als Hunderttausende Belarus*innen gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen auf die Straße gingen. In Interviews berichten Betroffene von der brutalen Gewalt und Folter, die sie im Zuge willkürlicher Verhaftungen durch den Sicherheitsapparat erlitten, und schildern ihre Erfahrungen. Diese Erzählungen werden gleichzeitig gegenübergestellt mit Originalaufnahmen aus den ersten Wochen nach der Scheinwahl des 9. August 2020. Der Name des Films ist angelehnt an den Artikel 23.34 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten in Belarus, nach welchem die Teilnehmenden der Protesten 2020 in Massen verurteilt wurden. Belarus 23.34 stellt dabei die einzelnen Stationen der Protagonist*innen Ende 2020 nach: von Demonstration und Verhaftung, dem Transport zur Polizeiwache, über Verurteilung und Gefängnis bis zur Rückkehr in die Freiheit. Durch die Kommentare und Erinnerungen der Interviewten wird deutlich, wie einschneidend die Geschehnisse von 2020 für die belarusische Gesellschaft waren, die nach wie vor Polizeigewalt sowie zunehmenden Repressionen ausgesetzt ist.
Im Rahmen der Deutschlandpremiere des Films sprachen die Moderator*innen Ina RUMIANTSEVA (RAZAM e.V.) und Manuel HASSEL (Libereco) nach der Filmvorführung noch mit der Regisseurin Tania SVIREPA, zwei Protagonist*innen des Films, die aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden möchten, sowie dem Völkerrechtsexperten Arne BARDELLE (ECCHR) über die Entstehung und Hintergründe des Films sowie die gegenwärtige Situation in Belarus.
ENTSTEHUNG DES FILMS UNTER BEDINGUNGEN VON ZWANGSMIGRATION UND LUFTSCHUTZBUNKER
Svirepa erzählt, dass die Arbeit an ihrem ersten Langfilm eigentlich als gänzlich anderes Projekt begonnen habe. Im Auftrag einer Menschenrechtsorganisation habe sie sich ursprünglich mit Asylsuchenden beschäftigt, die aus Tschetschenien kommend auf ihrem Weg nach Europa durch Brest zogen. Das Thema habe sich dann erst nach den dramatischen Entwicklungen in Belarus 2020 geändert. Nichtsdestotrotz sei der Film erst 2022 entstanden, merkt die Moderatorin Rumiantseva an, bereits nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Wie sei der Produktionsprozess verlaufen? In der Tat sei die Entstehung des Films eine Odyssee gewesen, rekapituliert Svirepa. Die Interviews seien noch in Belarus durchgeführt worden, alle innerhalb von zwei Wochen und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Alle Aufnahmen seien so etwa noch direkt während des Drehs in eine Cloud hochgeladen worden. Gleichzeitig sei darauf geachtet worden, dass sich alle Beteiligten so sicher wie möglich fühlten, wofür auch eine professionelle psychologische Begleitung vor Ort war. Als Svirepa dann im Anschluss ihr Land verließ, hätten sich die Filmaufnahmen bereits in der Ukraine befunden. Dort im Exil stellte sie die Nachbearbeitung des Films fertig – nicht jedoch vor der russischen Invasion 2022. Am Ton des Films habe das Team sogar noch in einem Luftschutzbunker gearbeitet, bevor der Film schlussendlich auch wieder aus der Ukraine gebracht werden musste.
DAS SCHICKSAL EINER GESELLSCHAFT UND WUNSCH NACH WANDEL
Dass der Film überhaupt fertiggestellt wurde, gleiche bei dieser Entstehungsgeschichte einem Wunder, konstatiert Rumiantseva. Wie habe Svirepa die Protagonist*innen des Films gefunden? Über ihre Freundes- und Bekanntenkreise und über Freiwillige, welche ein breites Netzwerk ergaben. Insgesamt habe das Team mit 30 Personen gesprochen, von denen 25 Interviews verwendet wurden. Wichtig sei dabei vor allem die Diversität der Gruppe gewesen, um die Vielfalt der Hintergründe abzubilden: Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Berufe, verhaftet an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten – und dennoch mit denselben Erfahrungen von Gewalt, Folter und Misshandlung.
Die beim Gespräch anwesenden Protagonist*innen, beides junge Erwachsene, leben mittlerweile in Polen – auch wenn sie eigentlich nur gerne nach Belarus zurückkehren würde, räumt die Frau ein. Für ihn sei Polen bereits der zweite Zufluchtsort, erzählt der Mann: Auch er sei wie Svirepa von Belarus zuerst in die Ukraine geflüchtet, die er nach 2022 wieder verlassen musste. Die Frage nach ihrer Motivation für die Mitarbeit in Svirepas Projekt beantworten beide mit ihrem Wunsch nach Wandel. Er wolle in Freiheit und auf der europäischen Seite leben. Sein zivilgesellschaftlicher Einsatz habe 2020 begonnen, durch die Teilnehme an Protesten. Mittlerweile, mit dem fortwährenden russischen Angriffskrieg in der Ukraine, sei dieser Einsatz – für die Ukraine und für ein unabhängiges Belarus – wichtiger denn je geworden. Für sie, die selbst Journalistin sei, habe bei dem Projekt die Dokumentation der Verbrechen und der Ausdruck von Widerstand im Vordergrund gestanden. Sie betont, wie wichtig es sei, nicht zu verstummen. Lukaschenka dürfe nicht glauben, dass es keine Opposition in Belarus mehr gebe und alle eingeschüchtert seien. Gleichzeitig halte sie an der Hoffnung fest, dass die Opfer in Zukunft Gerechtigkeit erfahren und die Täter bestraft werden.
CHANCEN EINER VÖLKERSTRAFRECHTLICHEN VERFOLGUNG
Rückblickend sei all dies erst der Beginn gewesen, stellt Rumiantseva fest. Die katastrophale Lage politischer Gefangener in Belarus setze sich auch heute weiter fort. Daher fragt sie Bardelle, der in der Berliner Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights tätig ist und sich dort mit dem Lukaschenka-Regime beschäftigt, welche Mechanismen es gebe, um die schuldigen Personen zur Verantwortung zu ziehen? Laut Bardelle ist das Völkerstrafrecht leider sehr ineffektiv. Das ECCHR und andere belarusische NGOs bemühten sich darum, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, indem sie Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erheben, für Tötungen etwa oder für Folter. Das ECCHR arbeite aus Deutschland daran, auch wenn eigentlich belarusische Gerichte hier in der Verantwortung stünden.
Bardelles Einschätzung nach werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Lukaschenka begangen: Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, die systematisch an der gesamten Bevölkerung verübt werden. Darunter fielen die mehr als 30.000 Menschen, die systematisch verhaftet worden seien. Zur Illustration führt Bardelle eine Statistik an: In Russland gebe es sechs politische Gefangene pro eine Million Einwohner*innen – in Belarus seien es 160. Jeder könne hier das nächste Ziel einer politisch motivierten Inhaftierung sein, jeder könnte zu einem politischen Gefangenen werden. Belarus 23.34 zeige die Systematik der Menschenrechtsverletzungen und wie die Anordnung dieser aus den höchsten Staatsebenen komme: Ein solches Beispiel sei auch die dort dargestellte Praxis von Polizisten gewesen, Personen mit einem roten Punkt zu markieren, die später besonders brutal gefoltert werden sollen. Auch dies sei Teil der Anklage des ECCHR. Mittlerweile gebe es eine Ermittlung in Litauen und Klagen in Polen, Tschechien sowie Deutschland. Allerdings fehle es am politischen Willen, die Verbrechen auch tatsächlich zu verfolgen. Aus diesem Grund müsse der Druck von Seiten der Menschenrechtsorganisationen und der Zivilgesellschaft aufrechterhalten werden.
Die Filmvorführung und Gesprächsrunde wurde mit einer Postkartenaktion für einen Protagonisten aus Belarus 23.34 beendet, der mittlerweile als politischer Gefangener in Belarus unrechtmäßig für fünf Jahre inhaftiert ist. Svirepa sammele seitdem an ihn adressierte Postkarten, um sie ihm zu übergeben, wenn er wieder freikommt.