Crimea and the Crimean Tatars
A contested peninsula between myths and realities
"Crimea is ours” – “Krym nash” was the slogan that accompanied Russia’s annexation of Crimea in 2014. Yet, Crimea is Ukrainian territory under international law. The claims to Crimea are as diverse at its history. The Crimean peninsula was part of the Byzantium, Roman, Mongol, Ottoman and Russian empires and was at different times influenced by Jews, Christians and Muslims.
The Crimean Tatars, descendants of the Crimean Khanate, which existed in the 15th-18th centuries, are now recognised as an indigenous people of Ukraine. Over the course of the last 250 years, they have experienced several waves of annexation, eviction, and forced displacement under the Russian empire, the Stalinist Soviet regime, and Putin’s Russia. Two renowned political scientists with acknowlegded expertise on Crimea will discuss the contested history of the Crimean peninsula and how the Crimean Tatars use memories of past displacements to cope with the current threat to their national identity.
The event is part of Amnesty International Germany's series Leben in einem anderen Land – 10 Jahre Annexion der Krim. Further information can be found at: https://amnesty-belarus-ukraine.de/.
We kindly request registration by June 7th.
Die Krim und die Krimtatar*innen – eine umkämpfte Halbinsel zwischen Mythen und Realität
"Die Krim gehört uns“ – "Krym nash“ war der Slogan, der die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 begleitete. Dabei ist die Krim nach internationalem Recht ukrainisches Territorium. Die Ansprüche auf die Krim sind ebenso vielfältig wie ihre Geschichte. Die Halbinsel Krim war Teil des Byzantinischen, Römischen, Mongolischen, Osmanischen und Russischen Reiches und wurde zu unterschiedlichen Zeiten von Juden, Christen und Muslimen beeinflusst.
Die Krimtatar*innen, Nachkommen des Krim-Khanats, das vom 15. bis zum 18. Jahrhundert existierte, gelten heute als indigenes Volk der Ukraine. Im Laufe der letzten 250 Jahre, im Russischen Reich, unter dem stalinistischen Sowjetregime und Putins Russland, erlebten sie mehrere Wellen der Annexion, Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Zwei renommierte Wissenschaftlerinnen mit ausgewiesener Expertise zur Krim diskutieren über die umstrittene Geschichte der Halbinsel Krim und darüber, wie die Krimtatar*innen Erinnerungen an vergangene Vertreibungen nutzen, um mit der aktuellen Bedrohung ihrer nationalen Identität umzugehen.
Die Veranstaltung ist Teil der Reihe Leben in einem anderen Land – 10 Jahre Annexion der Krim von Amnesty International Deutschland. Weitere Informationen unter: https://amnesty-belarus-ukraine.de/.
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Veranstaltungsbericht
Moderatorin Gabriele FREITAG (DGO) begann die Diskussion mit der Frage, wer die Krimtatar*innen eigentlich genau sind. Die von der Krim stammende Politikwissenschaftlerin verwies darauf, dass es unterschiedliche Lesarten dieser Gruppe gebe. Inzwischen sind die Krimtatar*innen als indigenes Volk der Ukraine anerkannt, der Weg dorthin sei aber lang gewesen. Die Expertin berichtete, dass sie oft gefragt werde, ob die Krimtatar*innen die gleichen Tatar*innen seien, wie jene in Russland. Die Krimatar*innen hätten allerdings niemals eine andere Heimat gehabt als die Krim, das gelte für den ganzen Zeitraum vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Weitere zentrale Merkmale für die Ethnogenese der Krimatar*innen seien Sprache und der Islam als Religion.
Ein wichtiger Referenzpunkt für die Geschichte der Krim sei die Rückkehr der während der Sowjetzeit deportieren Krimtatar*innen und ihrer Nachfahren in den 1990er Jahren gewesen, betonte die zweite Expertin des Abends, eine deutsche Ukraine- und Krim-Kennerin. Diese Rückkehr habe die ethnische Zusammensetzung der Halbinsel erneut verändert. Nicht jede*r sei mit der Sonderposition der Krim innerhalb der Ukraine einverstanden gewesen. Immer wieder sei behauptet worden, dass die Ukraine – und damit auch die Krim – Teil des russländischen Imperium gewesen sei. Die Integration der Krimtatar*innen, so die Expertin, sei zum Zeitpunkt der völkerrechtswidrigen Annexion durch Russland 2014 längst nicht abgeschlossen gewesen. Inzwischen gehören Deportationen erneuten zum Alltag.
Die krimtatarische Expertin erläuterte, dass die Wiederherstellung der kollektiven Rechte das Hauptziel der Krimtatar*innen in den 1990ern gewesen sei. Dabei habe man auf eine lange Tradition einer nationalen Bewegung zurückgreifen können, die bereits seit Sowjetzeiten existierte. Davon ausgehend sei es gelungen, zentrale Institutionen zu schaffen wie das krimtatarische Parlament oder verschiedene religiöse Institutionen. Auf dieser Basis seien die Krimtatar*innen die zentrale Kraft hinter verschiedenen sozialen Bewegungen auf der Halbinsel gewesen.
MIGRATION, DEPORTATION UND DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS
Erzwungene Migration und Deportation spielen in der krimtatarischen Geschichte eine wichtige Rolle. Bereits im 18. Jahrhundert, nach der Eroberung der Krim durch Russland, seien viele Krimtatar*innen in die Türkei und das Osmanische Reiche geflohen, 1944 folgte die massenhafte Deportation unter Stalin, erläuterte Freitag. Die krimtatarische Expertin verwies auf die zentrale Bedeutung dieser Ereignisse für das kollektive Gedächtnis der Krimtatar*innen. Die erzwungene Migration nach der Annexion 2014 sei dadurch für viele retraumatisierend gewesen. Die Migration habe zudem zunehmend Differenzen zwischen denjenigen hervorgerufen, die die Krim verlassen haben und jenen, die geblieben sind. Dabei sei auch eine Veränderung der Grundhaltung vieler Betroffener zu beobachten gewesen: Über einen langen Zeitraum sei man Opfer gewesen, nun müsse man etwas ändern.
Die Idee des Heimatlandes sei für die politische Mobilisierung der Krimtatar*innen schon immer wichtig gewesen, ergänzte die deutsche Krim-Expertin. Insbesondere nach 1990 habe man so das Maximum aus dem machen können, was das System den Krimtatar*innen eigentlich nicht wirklich geben wollte. Hier sei vor allem die Repräsentation im Parlament der Krim zu nennen.
AUSHANDLUNG VON GESCHLECHTERROLLEN
Neben der erzwungenen Migration, um beispielsweise zu verhindern, in die Armee eingezogen zu werden, würden nach 2014 auch die zahlreichen Verhaftungen die Community stark verändern, merkte die krimtatarische Expertin an. Dies zeige sich besonders im Hinblick auf die Geschlechterrollen. Die Verhafteten seien zumeist Männer aus konservativen islamischen Gruppen, innerhalb der die Geschlechterrollen klar definiert sind. Ohne die Männer müssten viele Frauen nun aber neue Rollen annehmen, selbst zu Aktivistinnen werden und Verantwortung übernehmen. Dies sei überlebenswichtig und würde die Krimtatarinnen stärken.
Nicht zu vernachlässigen sei dabei auch der sowjetische Einfluss. Die sowjetische Gesellschaft sei stark säkularisiert gewesen, die (Aus)Bildung von Frauen habe einen hohen Stellenwert gehabt. Die Aushandlung von Geschlechterrollen habe dadurch bereits vor der Annexion von 2014 begonnen. Allerdings, so die Politikwissenschaftlerin, habe dieser Wandel auch Grenzen. In Versammlungen herrsche oftmals noch eine strikte Trennung von Männern und Frauen.
Die abschließende Diskussion mit dem Publikum lieferte weitere wichtige Einblick unter anderem in der Verhältnis der Krimtatar*innen zur Ukraine. So verwies die krimtatarische Expertin darauf, dass die Community lange sehr kritische der ukrainischen Regierung gegenüber eingestellt gewesen sei. Erst 2014 habe sich das geändert, auch wenn die Kritik nicht vollständig verschwunden sei. Die weitläufige Meinung sei, dass die Ukraine – trotz einer zunehmenden Wertschätzung durch Regierung und Gesellschaft – mehr für die Krimtatar*innen hätte tuen können. Die Anerkennung als indigenes Volk im Jahr 2021 war in diesem Zusammenhang ein wichtiger Schritt.
Die Expertin aus Deutschland erläuterte zudem in Grundzügen, wie wissenschaftliche Umfragen seit 2014 ablaufen und welche Ergebnisse sie hervorbringen. Die Umstände für solche Umfragen seien naturgemäß schwierig, man habe das Untersuchungsdesign sowohl ethnische als auch methodologisch anpassen müssen. Einblicke in die Perspektive der Krimtatar*innen seien aber möglich. So habe sich unter anderem gezeigt, dass diese nach 2014 im Grunde überhaupt nicht in die russische Föderation an sich und die russische Gesellschaft integriert worden wären. Über 40 % der Befragten hätten zudem keine Kontakte zu anderen Krimtatar*innen innerhalb der Ukraine.
Die Annexion von 2014 habe auch großen Einfluss auf die Sprache der Krimtatar*innen, so die Expertin von der Krim. Bereits vorher habe man einen Rückgang der Sprache feststellen können, es habe lediglich15 Schulen gegeben, an der sie unterrichtet wurde. Seit 2014 sei es noch schwieriger, Sprachunterricht oder -kurse zu etablieren. Für die jüngere Generation sei inzwischen Russisch die zentrale Kommunikationssprache.
Abschließend kam die Expertin darauf zu sprechen, dass sie sich, seitdem sie in Deutschland lebt, immer stärker dazu gedrängt sieht, als politische Aktivistin tätig zu werden. Allerdings sei ein gewisser Aktivismus für Krimtatar*innen vor dem Hintergrund ihrer Geschichte durchaus normal. Sie selbst sehe sich eher als Missionarin – es fühle sich so an als sei sie auf einer Mission.