Atommüllkatastrophen und Strahlenschutz. Nukleares Wissen und Technopolitik in der Region Čeljabinsk, 1949-1991

Die bis heute politisch wie gesellschaftlich bedeutsame Frage nach den Folgen der Nutzung von Atomenergie hat ihre Vorgeschichte im Kontext des Kalten Krieges. Auf sowjetischer Seite wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das sowjetische Atomprogramm mit aller Macht vorangetrieben. Dies erforderte bald die Etablierung von Strahlenschutznormen, welchen im diskursiven Spannungsfeld von Fortschritt und Risiko zunehmende Bedeutung für die nukleare Technopolitik zukommen sollte. Das lässt sich besonders anschaulich am Beispiel der Region Čeljabinsk erläutern. Dort entstanden Ende der 1940er Jahre zahlreiche nukleare Forschungs- und Produktionsstätten. Durch deren Betrieb kam es zur radioaktiven Verunreinigung des örtlichen Wassersystems. 1957 führte eine große Atommüllexplosion im Kombinat Majak zur Kontamination weiter Gebiete im Süd-Ural. Zur Bewältigung der Katastrophe entstanden in der Region Čeljabinsk erste administrative Praktiken zum Umgang mit radioaktiver Kontamination sowie eine Reihe biophysikalischer und radiomedizinischer Forschungsinstitute.
Mit einem praxeologischen Ansatz untersucht das Forschungsprojekt auf der Grundlage neu zugänglicher Archivbestände, wie in diesen neuen Einrichtungen wegweisende Wissensbestände produziert wurden, die dann für die Organisation des zentral beim Gesundheitsministerium der UdSSR angesiedelten Strahlenschutzes sowie bei der wissenschaftlichen Ausarbeitung der Strahlenschutznormierung eine wichtige Rolle spielten. Dieser Praxis- und Wissenstransfer wird auch anhand der Karrierewege mehrerer Akteure aus der Region Čeljabinsk nachgezeichnet, die später in Moskau als führende Experten wichtige Posten im Rahmen der Strahlensicherheit übernahmen. Ausgehend von der Region richtet sich der Blick auf die unionsweite Organisation des Strahlenschutzes und darüber hinaus auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit auf internationaler Ebene, um auf einem sich neu etablierenden Forschungsfeld die Produktion von nuklearem Wissen sowie dessen Umsetzung in Regulierungen und Praktiken näher zu beschreiben. Thematisiert wird daher auch das Engagement der Čeljabinsker Forscher*innen im Rahmen internationaler Organisationen (ICRP(U), WHO, IAEA, UNSCEAR). Die Analyse der dort geführten wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die maximal zulässigen Dosen radioaktiver Strahlung ermöglicht Einblicke in die wissenschaftlich-technologische Verflechtungsgeschichte der geteilten Moderne des Kalten Krieges.  Nach dem Vortrag wird es im Rahmen einer öffentlichen Diskussion Gelegenheit zu Nachfragen geben.

Datum:
30.10.2018, 18:00 Uhr

Ort:
Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen
Osteuropa-Gebäude, OEG 3790
Klagenfurter Straße 8
28359 Bremen

Sprache(n):
Deutsch

Veranstalterin:
DGO-Zweigstelle Bremen