Verflechtungen, Transfer und Kontakt in und mit Osteuropa
Die seit 1996 jährlich stattfindenden JOE-Tagungen richten sich an fortgeschrittene Studierende, Promovierende und PostDocs, die ihre Forschungsprojekte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen mit einem Schwerpunkt auf Osteuropa vorstellen. Die Projekte werden von arrivierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kommentiert und von allen Teilnehmenden diskutiert. Das Begleitprogramm beinhaltet thematische und praxisorientierte Komponenten. Die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde organisiert die JOE-Tagungen gemeinsam mit der Forschungsstelle Osteuropa mit unterschiedlichen Kooperationspartnern. 2017 waren das Cologne-Bonn-Centre for Central and Eastern Europe sowie das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS, Berlin) beteiligt.
Veranstaltungsprogramm
Programm (PDF, 439 kB)
Veranstaltungsbericht
von Philine Bickhardt, Sebastian Lambertz und Alina Strzempa
Zu Beginn der Tagung stellte die wissenschaftliche Direktorin des ZOiS, Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, im Vortrag „Die sozialen und politischen Transfers von MigrantInnen: Konzepte und Empirie“ einen Teilaspekt ihres derzeitigen Forschungsprojekts „Political Remittances: The Political Impacts of Migration“ vor. Prof. Sasse konzentrierte sich auf die Modelle eines Umgangs mit der Migrationserfahrung aus Osteuropa. Als kulturpolitische Folie galt in ihrem Vortrag die weitgefasste Demokratisierung der Zivilgesellschaft, um aufzuzeigen, wie verschiedenartig sich Migration auf individuelle Selbstwahrnehmungen auswirken kann. Besonders das Beispiel von nach England ausgewanderten Polen war dabei sehr prägnant. Die immer wieder auftretenden Fragen zur politischen Situation im Lande lösten bei den Emigrierten eine intensive Beschäftigung mit den Ereignissen im Heimatland aus und konnten sogar zur politischen Partizipation führen.
Im darauffolgenden ersten Panel „Kooperation und Konkurrenz – die EU und das östliche Europa“ thematisierte zunächst Johann Zajaczkowski das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine und diskutierte, inwiefern die von der EU geförderte Art des Kapitalismus mit der ukrainischen vereinbar ist. Daraus leitete er schließlich Thesen darüber ab, wie sich die ukrainischen Eliten verhalten sollten, um eine für sie günstige Entwicklung zu fördern. Auch Maya Janik befasste sich mit den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine, konzentrierte sich aber dabei auf die Sicherheitspolitik. Sie stellte die auf den ersten Blick paradox erscheinende These in den Raum, dass die Partnerschaft in der EU in der ukrainischen Gesellschaft im Grunde ein Gefühl der Unsicherheit auslöste, da man sich klar zwischen Deutschland und Russland positionieren musste. In ihren Kommentar ging Prof. Dr. Caroline von Gall auf die Frage ein, ob nicht die von der EU in die Partnerschaft eingebrachten Werte grundsätzlich auf eine Ost-West-Teilung ausgelegt seien. Im Hinblick auf Johann Zajaczkowskis Vortrag standen die Ideen der beteiligten Akteure und ihr Einfluss auf die institutionelle Entwicklung im Vordergrund. Prof. von Gall betonte dabei, dass es zwingend nötig sei, bei beiden Forschungsvorhaben alle beteiligten Akteure in die Analyse einzubeziehen, um keine einseitigen Ergebnisse zu erhalten.
Parallel zum ersten Panel wurden „Kulturelle und gesellschaftliche Verflechtungen in der Literatur“ diskutiert. Zunächst behandelte Irine Beridze die transkulturellen Konzepte in den Romanen der in Deutschland sesshaften, aber aus Osteuropa stammenden AutorInnen Olga Grjasnowa, Vladimir Vertlib und Katja Petrowskaja. Entlang der Kategorien Raum und Sprache und unter Anwendung des Transkulturalitäts-Konzepts von Wolfgang Welsch charakterisierte Beridze die Schreibprogramme der AutorInnen. Ina Hartmann beschäftigte sich dagegen mit dem Heimat-Konzept in den Romanen der tschechischen Autorinnen Vĕra Linhartová und Daniela Hodorová. Als theoretische Grundlage galt für Hartmann die Phänomenologie des tschechischen Philosophen Jan Patočka. In seinem Kommentar konzentrierte sich Prof. Dr. Jörg Schulte auf die Notwendigkeit, beim Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten die angewandte Methodik kritisch zu hinterfragen. Die Fragen aus dem Publikum bezogen sich dementsprechend vornehmlich auf die von den beiden Promovierenden verwendeten Ansätze.
Bei der öffentlichen Abendveranstaltung diskutierten Tamina Kutscher (Dekoder, Russland entschlüsseln), Dr. Rolf Mützenich (SPD) und Sergeij Tereshenkov (EU Russia Civil Society Forum, CSF) über die „Abschottung in Zeiten maximaler Vernetzung? Kommunikation mit dem östlichen Europa auf unterschiedlichen Ebenen“. Kutscher wies darauf hin, dass die meisten Mediennutzer sich trotz eines sehr breiten Informationsangebots in der Regel in sogenannten „Filter-Bubbles“ (Filter-Blasen) bewegen, die Wissen vorenthalten bzw. nach bestimmten Kriterien filtern. Als Chefredakteurin des preisgekrönten Internetportals „Dekoder“ sprach sie über die Voraussetzungen und Möglichkeiten eines qualitativen Journalismus. Ziel von Dekoder sei es, der zunehmenden Abgrenzung zwischen den osteuropäischen Ländern (insbesondere Russland) und den westlichen Industrienationen entgegenzuwirken. Tereshenkov verwies darauf, dass trotz medialer Abgrenzungen die Zivilgesellschaften in Europa im regen Austausch seien und sich gegenseitig unterstützten. Die politische Perspektive auf die Frage nach der „Abschottung in Zeiten maximaler Vernetzung?“ betonte der langjährige SPD-Politiker Mützenich. Gerade für Länder wie Deutschland und Russland gelte es, in politisch-angespannten Phasen sowohl traditionelle Format wie auch neue Kommunikationsformen zu nutzen.
Im Panel „Erinnerungen und Narrative“ erörterte Alena Heinritz unterschiedliche Narrative über den Kommunismus bei Literaturschaffenden, die von einer Sprache zur anderen wechseln. Melina Hubel sprach über die Auschwitz-Protokolle von Vrba-Wetzler und Witold Pilecki. Rebecca Großmann berichtete über die Transnationalisierung der Erinnerung in deutschen und polnischen Erinnerungsfilmen. Nach dem Kommentar von Dr. Ekaterina Makhotina konzentrierte sich die Diskussion auf die Definition des Kommunismus im Kontext literarischer Narrationen.
Im Panel „Mediale Selbstverortungen“ analysierte Magda Wlostowska Transnationalisierungsprozesse am Beispiel von LGBT-Gruppen in Polen. Die von Prof. Dr. Christoph Garstka angestoßene Diskussion führte unter anderem zu dem Ergebnis, dass die LGBT-Aktivisten in Polen zwar von Transnationalisierungsprozessen beeinflusst sind, aber keine Bezüge zu den Solidarność-Aktivisten aufzeigen. Anastasia Pastuchov beschäftigte sich mit den Werken des russischen Dramaturgen Ivan Vyrypaevs, die sie zwischen Ost und West verortete. Dabei zeigte sich, dass der Kulturtransfer gen Westen bei Vyrypaev durch den brutal dargestellten Rassismus und Sexismus seiner frühen Werke beeinträchtigt wurde. Jeannine Harder stellte die Polnische Plakatschule in den 1960er Jahren vor und charakterisierte diese als Paradebeispiel für die Institutionalisierung der Kunst und einer auf sie folgenden Historisierung.
Im Panel „Modernisierungsstrategien“ stellte Joanna Karasinska-Vogenbeck ihr Promotionsprojekt zu den „Gestaltungsräumen lokaler Regime in der Russischen Föderation am Beispiel des Kaliningrader Gebiets“ vor. Am Beispiel der zunehmend aufkommenden ökologischen, zivilgesellschaftlichen Initiativen in Russland analysierte sie die Herausforderungen für zivilgesellschaftliche Akteure in Russland zwischen einer Vernetzung mit westlichen Organisationen und der lokalen Eingliederung in die „Vertikale der Macht“. Dr. Christian Bülow stellte seine kürzlich verteidigte Promotion zur Möglichkeit einer Modernisierung des Altindustriegebiets Kuzbass in Sibirien vor. Vera Rogova analysierte die Selbstwahrnehmung Russlands in Bezug auf Europa anhand einer Diskussion zu „Modernität und Modernisierung im russischen Reformdiskurs“.
Im Panel „Kulturelle und politische Netzwerke“ sprach Zsófia Turoczy sprach über die freimaurerischen Netzwerke am Beispiel der habsburgischen und osmanischen Freimaurer-Logen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und wies darauf hin, dass diese sich einen eigenen Kommunikationsraum schufen. Im Kommentar von Prof. Dr. Frank Hadler wurde deutlich, dass die Aushandlungsprozesse unter den Freimaurern nicht automatisch auf die Elitenforschung übertragbar sind. Huseyn Aliev widmete sich dem höchst aktuellen Thema der informellen Praktiken unter den politischen Eliten des post-Majdan. Der Frage, ob der politische Umsturz in der Ukraine automatisch auch Reform und Transformation bedeutete, hielt Aliev die Tatsache entgegen, dass die jüngste Transformation in der Ukraine unter Kriegsumständen stattfinde. Dies erfordere neue Zugänge zur Frage der Transformation.
Ein weiteres Panel beschäftigte sich mit den geographischen und mentalen Grenzüberschreitungen einer „temporären Diaspora“. Im Fokus standen die russisch-sprachige und die polnisch-sprachige Diaspora in Deutschland. Maren Rohe sprach darüber, wie sich ein Aufenthalt in Deutschland auf die Wahrnehmung des Landes unter Russinnen und Russen auswirkt, während Katharina Schuchardt sich mit den interkulturellen Selbstverortungen der jungen Generation beschäftigte, die sich zwischen Deutschland und Polen bewegt. Maren Rohe betonte dabei die Bedeutung von Studienaufenthalten im Hinblick auf den Abbau von Vorurteilen über die jeweils andere Nation. Katharina Schuchardt fokussierte in ihrem Vortrag vor allem darauf, wie der Geschichtsunterricht die Selbstwahrnehmung vieler junger Menschen im Schlesischen Oppeln beeinflusste, da die dort vermittelten Aspekte innerhalb der Familien oftmals deutlich anders dargestellt wurden. Der Kommentar von Prof. Dr. Gwendolyn Sasse zielte vor allem auf die analytische Schärfe der verwendeten Konzepte ab.
Der zweite Konferenztag schloss mit einem ‚Werkstattgespräch‘ zur wissenschaftlichen Karriereplanung.
Im Panel „Subkulturen und ihre mediale Präsenz“ stellte Jiří Almer die extreme music protests in der ehemaligen Tschechoslowakei und Slowenien von den 1980er Jahren bis heute vor. Almers Fragestellung bezog sich hauptsächlich auf das Verhältnis zwischen dem Hardcorepunk und dem politischen Aktivismus. Am Beispiel der subkulturellen fan magazines analysierte er die Wechselwirkung zwischen der antirassistischen und antisexistischen Postulate und dem Verzicht auf den sozialistischen Ethos. Tatsjana Svishchuk widmete ihren Vortrag dem relativ jungen multimodalen Genre eines „demotivationalen“ Bildes, dessen unzählige Variationen im Internet kursieren. Svishchuk vergleicht in ihrer Forschung die auf Märchen basierenden demotivational posters aus Großbritannien, Deutschland und Russland. Dr. Kirsten Bönker stellte in ihrem Kommentar in Bezug auf Svishchuks Fragestellungen das Verhältnis zwischen Faktualität (alltäglicher und politischer Bezug) und Fiktionalität heraus.
Im Panel „Stereotypen und Fremdwahrnehmungen“ analysierte Anda Godlinski die Auseinandersetzung mit deutschen, lettischen und russischen Stereotypen auf kultureller Ebene während des Ersten Weltkrieges. Im Wesentlichen ging es dabei um die Konstruktion und Instrumentalisierung dieser Stereotypen. Sebastian Majstorovic ging auf die konkurrierenden Narrative eines europäischen Kosmopolitismus im Revolutionsjahr 1848 ein. Am Beispiel der Diskussion über die Donauschwaben zeigte er, wie diese von ungarischer Seite instrumentalisiert wurden, um sich als Verteidiger der Christenheit gegen den Osten zu stilisieren. Dr. Heidi Hein-Kircher zielte in ihrem Kommentar auf die Frage ab, inwiefern sich die von den Vortragenden aufgezeigten Beispiele in größere Narrative einbauen lassen und forderte eine klarere Definition des Begriffs „Kosmopolitismus“.
In der Abschlussrunde wurde hervorgehoben, dass viele Tagungsbeiträge sich nicht eindeutig einer Disziplin zuordnen lassen und die JOE-Tagungen damit zunehmend interdisziplinär werden.
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