Die Zukunft von Belarus

Seit mehr als einem Jahr unterdrückt in Belarus das herrschende Regime die gesellschaftliche Demokratiebewegung. Friedliche Massenproteste gegen die Fälschung der Präsidentschaftswahlen haben die Einsatzkräfte des Gewaltherrschers brutal niedergeschlagen. Zehntausende wurden verhaftet, oft verprügelt und gefoltert. 4500 politisch motivierte Strafverfahren wurden eröffnet, von den über 600 politischen Gefangenen wurden sehr viele bereits zu mehrjährigen Haftstrafen von bis zu 14 Jahren verurteilt. Die Zivilgesellschaft ist nahezu komplett zerstört. Vereine, Initiativen und Medien wurden verboten, ihre Vertreter sitzen im Gefängnis, wurden in die Emigration getrieben oder leben in der täglichen Gefahr einer Verhaftung.

Wie geht es weiter mit Belarus, welches sind die Szenarien der Entwicklung in den kommenden Monaten und Jahren? Zeitigen die von der Europäischen Union und weiteren Staaten verhängten Sanktionen erste Erfolge und welche negativen Auswirkungen haben sie? Was sind die Stützen des Regimes und welche Bruchstellen gibt es? Welches sind die Strategien der aus dem Ausland agierenden Demokratiebewegung und wie kann den unter politischer Verfolgung leidenden Menschen in Belarus geholfen werden?

Es diskutieren:
Valery Kavaleuski, Außenpolitischer Berater von Swetlana Tichanowskaja
Wojciech Konończuk, Stellvertretender Direktor des Zentrums für Oststudien (ÓSW), Warschau
Astrid Sahm, Stiftung Wissenschaft und Politik/Internationales Bildungs- und Begegnungszentrum, Berlin

Moderation:
Volker Weichsel (Zeitschrift Osteuropa)

Die Veranstaltung kann auch im Livestream verfolgt werden: https://www.facebook.com/pileckiinstitut

Veranstaltungsprogramm

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Veranstaltungsbericht

Bericht: Paul Schröck

Seit mehr als einem Jahr unterdrückt das herrschende Regime in Belarus die gesellschaftliche Demokratiebewegung. Friedliche Massenproteste gegen die Fälschung der Präsidentschaftswahlen haben die Einsatzkräfte des Gewaltherrschers brutal niedergeschlagen. Vereine, Initiativen und Medien wurden verboten, ihre Vertreter*innen sitzen im Gefängnis, wurden in die Emigration getrieben oder leben in der täglichen Gefahr einer Verhaftung. Vor diesem Hintergrund diskutierten Valery KAVALEUSKI Kabinettschef Svetlana Tichanovskajas aus Vilnius, Wojciech KONOŃCZUK, Stellvertretender Direktor des Zentrums für Oststudien (ÓSW) in Warschau und die Berliner Politikwissenschaftlerin Astrid SAHM über mögliche Entwicklungen und Handlungsoptionen der belarussischen Opposition und der westlichen Staaten in den kommenden Monaten und Jahren.

Kavaleuvski beschrieb die aktuelle Situation als Sieg der Konterrevolution Lukaschenkas. Dies läge nicht zuletzt an der gewaltfreien Protestform der Opposition. Dass diese von Beginn und trotz der heftigen Gewalt der Sicherheitskräfte an vollkommen friedlich blieb, sei sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Bewegung. So hätten die Demonstrant*innen zwar der Weltöffentlichkeit die Rechtmäßigkeit ihres Protestes vor Augen führen können, doch sei mit dieser gewaltfreien Form des Widerstands Lukaschenkas Regime, das auch vor extremer Gewaltanwendung wie dem Einsatz von Schusswaffen nicht zurückschrecke, nur schwer zu besiegen.

Dabei machte Kavaleuvskis bis zum Oktober 2021 zwei wichtige Zäsuren aus. Die erste sei die von Lukaschenka erzwungene Landung einer Passagiermaschine im Mai 2021 gewesen. Kavaleuvskis bewertete dies als Versuch des Diktators, sich erneut als „starken Mann“ zu präsentieren. Als zweite Zäsur benennt Kavaleuvski die von Lukaschenka betriebene Flüchtlingspolitik, in deren Rahmen tausende Menschen nach Belarus eingeflogen und an die belarussisch-polnische Grenze verfrachtet werden. Für Kavaleuvski sind dies entscheidende strategische Fehler Lukaschenkas. Indem dieser in beiden Fällen die Interessenssphäre der EU tangierte, sei er in die „Defensive“ geraten. Schließlich bliebe der EU nun nichts anderes mehr übrig, als harte Strafsanktionen gegen sein Regime zu verhängen.

Astrid Sahm äußerte sich hierzu vorsichtiger. Zwar stünden beide Ereignisse klar für eine Eskalationsspirale, doch müsse man sie gesondert voneinander betrachten. Im Hinblick auf die Ryanair-Affäre etwa sei weder abschließend geklärt, ob es sich eindeutig um politisches Kalkül Lukaschenkas handelte, noch wisse man eindeutig, „wer welche Entscheidung aus welchen Gründen getroffen“ habe. Nicht hinter jeder politischen Entscheidung in Belarus stecke zwangsläufig Lukaschenka. Stattdessen müsse man bei der Analyse die besondere Situation im Land beachten, wonach sich sowohl staatliche als auch zivilgesellschaftliche Akteure in einem „wechselseitigen Informationsvakuum“ befänden. Demnach gebe es immer unterschiedliche Varianten und Darstellungen der einzelnen Ereignisse. So handelten die belarussischen Behörden beispielsweise in eigener Wahrnehmung als rechtmäßiger Strafverfolgungsapparat.

Dies gelte ebenso für die von Lukaschenka maßgeblich provozierte „Flüchtlingskrise“ an der Grenze zu Polen. Hier sei es laut Sahm zum einen möglich, dass Lukaschenka, in Anbetracht des „Flüchtlingsdeals“ der EU mit der Türkei, darauf hoffe, selbst einen Hebel in der Hand zu halten, um mit der EU in Verhandlungen zu treten. Außerdem sei auch ein ideologisches Kalkül des belarusischen Präsidenten denkbar. So ließe sich seine Politik auch als ein Versuch interpretieren, die EU vorzuführen und ihr gleichsam aufzuzeigen, dass ihre Selbstwahrnehmung als eine Wertegemeinschaft nur eine Farce sei.

Gleichzeitig gelte es, so Sahm, auch die Strategie der Oppositionsbewegung kritisch zu analysieren. Nicht nur Lukaschenka, sondern auch die Protestbewegung habe strategische Fehler begangen. Ein Beispiel hierfür stelle das gescheiterte Ultimatum im Oktober 2020 dar. Hätte die Opposition stattdessen auf Dialog und auf schrittweise Veränderungen gesetzt, wären, unter Einbeziehung der lokalen Exekutive, die schon seit zehn Jahren mehr Haushaltskompetenzen, mehr Verhältniswahlrecht und direkte Bürgermeisterwahlen fordere, vielleicht Verfassungsänderungen möglich geworden. Dies hätte dann im zweiten Schritt zu freien und fairen Wahlen führen können. Durch das Ultimatum aber habe man diese Eliten abgeschreckt und noch stärker ans Regime gebunden, da sie für den Fall eines Regierungswechsels eine Strafverfolgung befürchten müssten.

Angesichts einer solchen Entwicklung stellt sich die Frage nach einer angemessenen Reaktion der EU. Für Wojciech Konończuk gibt es keine Alternative zu harten Sanktionen der EU und der USA gegenüber Belarus. Das einzige Ziel des Präsidenten sei es, unter allen Umständen an der Macht zu bleiben. Alle bisherigen Verhandlungsversuche europäischer Staatsoberhäupter mit Lukaschenka seien daher erfolglos geblieben. Im Gegenteil stünde Lukaschenka eine Vielzahl von Machtmitteln zur Verfügung, um seinen Machtanspruch durchzusetzen. Daher seien internationale Sanktionen das einzige Mittel der EU, sich sowohl mit der belarusischen Opposition solidarisch zu zeigen als auch Lukaschenkas Regime entscheidend zu schwächen, für dessen Verbrechen zu bestrafen und schlussendlich an den Verhandlungstisch zu zwingen. Soweit man dies aus dem sehr limitierten Pool an Informationen aus sozialen Netzwerken nachvollziehen könne, würden derartige Sanktionen auch von den Belarus*innen selbst gefordert. Schon jetzt gebe es, so Konończuk, Hinweise darauf, dass sich die bereits verhängten Sanktionen als wirksam erwiesen hätten. So sei etwa die Präsenz chinesischer Unternehmen in Belarus spürbar zurückgegangen. Er wies zudem darauf hin, dass es nicht nur darum gehe, staatliche Unternehmen zu sanktionieren. Viel eher solle es für die Oligarchen zu teuer werden, weiterhin Lukaschenkas Regime zu unterstützen. Er halte es für wichtig, dass die EU Stärke beweise und deutlich aufzeige, dass sie Mittel habe, sich zur Wehr zu setzen.

Astrid Sahm hingegen stellte die Alternativlosigkeit von Sanktionen in Frage. Zwar sei es aufgrund eines drohenden Gesichtsverlustes der EU falsch, bereits bestehende Sanktionen aufzuheben, doch müsse man die Wirksamkeit solcher Maßnahmen, insbesondere im Hinblick auf einen Regierungswechsel, anzweifeln. So verhänge man bereits seit dem Jahr 1996 Sanktionen gegen Lukaschenka, doch hätten diese bisher keinerlei Wirkung im Sinne einer gewünschten politischen Veränderung gezeigt. Im Gegenteil träfen die aktuellen Sanktionen auf individueller Ebene vor allem die verbliebenen zivilgesellschaftlichen Akteure im Land, deren Kooperations- und Handlungsmöglichkeiten durch Maßnahmen wie das Flugverbot und Einschränkung des Geldverkehrs stark eingeschränkt seien. Weiterhin stärkten die Sanktionen Lukaschenkas Ansatz zu einer Geopolitisierung der Krise. Demnach sei es für den Erfolg von Sanktionen notwendig, auch Russland einzubeziehen, um die russische Unterstützung für Belarus zu teuer werden zu lassen. Weiterhin zweifelte Sahm die These an, Lukaschenka mithilfe von Sanktionen an den Verhandlungstisch zwingen zu können. Dieser habe bereits in der Vergangenheit negativ konnotierte Erfahrungen mit Verhandlungen gesammelt und sehe diese als „den ersten Schritt ins Verderben“. Dabei verweise er oftmals auf die außer Kontrolle geratenen Reformen Gorbatschows. Stattdessen gelte es, Teile des belarussischen Staatsapparates dazu zu bewegen, sich vom Regime abzuwenden. Sanktionen seien hierfür jedoch zumindest in Teilen kontraproduktiv, da sie den gegenteiligen Effekt bewirken könnten. Als alternativen Ansatz schlug Sahm vor, mit horizontalen Sanktionen zu arbeiten, die sich beispielsweise nur auf die Situation der Migrant*innen an der belarussischen Grenze bezögen und eng gefasst seien.

Laut Kavaleuski zielen die Sanktionen nicht auf einen Regierungswechsel, sondern darauf, die Gewalt zu beenden, die Situation politischer Gefangener zu verbessern und ein Zeichen der Solidarität mit der belarussischen Opposition zu setzen. Zudem gebe es in Belarus keine Zivilgesellschaft mehr, die durch Sanktionen getroffen werden könnte. Nichtsdestotrotz halte er es aber für verfrüht, bereits heute Aussagen über die Effektivität der bisher verhängten Strafmaßnahmen zu treffen. Nicht nur Sanktionen, sondern vor allem die sichtbare Präsenz der Opposition in Belarus sei entscheidend.

Einigkeit bestand darüber, dass die politische Situation in Belarus sowohl für die EU als auch für die belarussische Opposition ein Dilemma darstellt, für das es keine eindeutige Lösung zu geben scheint. Die Machtposition beider Seiten sei zu schwach, weshalb die ihnen zur Verfügung stehenden Druckmittel nicht ausreichten. In Bezug auf die Strafmaßnahmen der EU gebe es aber keine Alternativen. Auch wenn die Gefahr eines gegenteiligen Effekts evident ist, so sei es eine Frage der Glaubwürdigkeit, weiterhin Sanktionen gegen Lukaschenka zu verhängen.

Veranstaltungsbericht (PDF, 113 kB)

Datum:
06.09.2021, 18:00 Uhr

Ort:
Pilecki-Institut Berlin
Pariser Platz 4a
10117 Berlin

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

Plakat (PDF, 121 kB)

Kooperationspartner:
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