Krach 1991

Ist es leicht, jung zu sein?

Ist es einfach, jung zu sein?, fragte Juris Podnieks Dokumentarfilm aus dem Jahr 1986 über die junge Generation der 1980er-Jahre. Der Film brach mit vielen Tabus: er zeigte ein Konzert einer verbotenen Punkband; junge Hooligans, die sich in Vorortzügen flegelten und randalierten; kaputte und orientierungslose Afghanistanrückkehrer; junge Mütter, die sich um die Folgen von Tschernobyl sorgten. Trotzdem, oder gerade deshalb, wurde der Film schnell ‚Kult‘, genau wie die Rockikonen der jungen Perestroikageneration – Viktor Tsoi, Boris Grebenschikow, Jurij Schewtschuk. Neue Subkulturen, die unter dem Begriff Neformaly fungierten, schossen bald wie Pilze aus dem unstabilen Boden der untergehenden Sowjetunion. Politisch gab es bald für jede Ideologie – vom Faschismus über den Zionismus bis zum Anarchismus – eine Vereinigung. Stilistisch wurde alles ausprobiert von Retro Teddy-Boys bis Punk und Glamrock. Aber die Geschichte der wilden sowjetischen Jugend ist dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion in Vergessenheit geraten, obwohl sie gerade jetzt, wo junge Leute in Russland und Belarus auf die Straße gehen, ihre Kunst als Protest verstehen und sich von der Macht versteckte Nischenexistenzen aufbauen, wieder neue Relevanz hat. 

Der Schriftsteller Wladimir KAMINER (Russendisko, Good-bye Moskau: Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts, Der verlorene Sommer. Deutschland raucht auf dem Balkon) war 23 Jahre als er Moskau 1990 verliess. Die Jahre davor verbrachte er in der wilden spätsowjetischen Jugendszene, in der man an allen Ecken Musik, Protest und jugendliche Identitätsfindung machte, und die er in Form seiner Russendisko mit sich nach Berlin brachte. Einige seiner Erinnerungen von der Götterdämmerung des sowjetischen Imperiums haben sich in seinen Werken wiedergefunden.

Die Historikerin Juliane FÜRST besuchte in den späten 1980er Jahren noch eine Klosterschule in München. Sie kam erst durch ein Projekt über die sowjetische 1968er-Generation mit der wilden alternativen Szene in der Sowjetunion in Berührung und schrieb darüber ein Buch, dass dieses Jahr unter dem Titel »Flowers through Concrete: Explorations in Soviet Hippieland« erschien.

Das Gespräch zwischen dem Zeitzeugen und Literaten Wladimir Kaminer und der Historikerin Juliane Fürst wird von Gabriele FREITAG, der Leiterin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, moderiert. 

Im Anschluss läuft der Film »Soviet Hippies« (OmeU).

Für den Besuch der Veranstaltung gilt die 2G-Regelung. Anmeldung unter: Aktivieren Sie JavaScript, um diesen Inhalt anzuzeigen..

Das Gespräch wird live auf dem YouTube-Kanal der Stadtbibliothek Berlin-Mitte übertragen.

Eine Veranstaltung im Rahmen der Reihe »KRACH 1991« von Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO, Berlin), Forschungsstelle Osteuropa (FSO, Bremen), Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS, Regensburg) und Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF, Potsdam)

© ZZF
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Veranstaltungsbericht

Bericht: Paul Schröck

Ist es leicht, jung zu sein? fragte Juris Podnieks Dokumentarfilm aus dem Jahr 1986 über die junge sowjetische Generation der 1980er-Jahre. Der Film brach mit vielen Tabus: er zeigte ein Konzert einer verbotenen Punkband; junge Hooligans, die sich in Vorortzügen flegelten und randalierten; kaputte und orientierungslose Afghanistanrückkehrer; junge Mütter, die sich um die Folgen von Tschernobyl sorgten. Trotzdem, oder gerade deshalb, wurde der Film schnell ‚Kult‘. Neue Subkulturen, die unter dem Begriff Neformaly fungierten, schossen bald wie Pilze aus dem unstabilen Boden der untergehenden Sowjetunion. Politisch gab es bald für jede Ideologie – vom Faschismus über den Zionismus bis zum Anarchismus – eine Vereinigung. Stilistisch wurde alles ausprobiert von Retro Teddy-Boys bis Punk und Glamrock. Aber die Geschichte der wilden sowjetischen Jugend ist dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion in Vergessenheit geraten, obwohl sie gerade jetzt, wo junge Leute in Russland und Belarus auf die Straße gehen, ihre Kunst als Protest verstehen und sich von der Macht versteckte Nischenexistenzen aufbauen, wieder neue Relevanz hat.

Der Schriftsteller und Zeitzeuge Wladimir KAMINER, der seine Jugend in der spätsowjetischen Hippiebewegung verbrachte, und die Historikerin Juliane FÜRST, die zur sowjetischen 1968er-Generation und der alternativen Szene der Sowjetunion forscht, unterhielten sich über die sowjetische Jugendszene. Dabei gingen sie unter anderem den Fragen nach, wie „leicht“ oder „schwer“ es war, als Hippie in der Sowjetunion abseits der Gesellschaft zu leben, welche Freiheiten die Jugendlichen hatten, welchen Zwängen sie ausgesetzt waren und welche Berührungspunkte es mit westlichen Subkulturen gab.

Aus der Sicht Wladimir Kaminers war es als Hippie leichter, in der Sowjetunion zu leben, als im kapitalistischen Amerika. Die sowjetischen Hippies hätten dem Staat als Pazifisten, denen das Leben ohne Geld am wichtigsten gewesen sei, nicht feindlich gegenübergestanden. Im Gegenteil habe die „sowjetische Realität“, in der die „Spießbürger“ sich vom Sozialismus abwendeten, einen „nahrhaften Boden“ für sie dargestellt. Dabei seien die sowjetischen Hippies grundsätzlich unpolitisch gewesen. Während in den USA und in anderen westlichen Ländern der Vietnamkrieg ein wichtiger Katalysator für die Studierendenproteste der 1968er Bewegung war, habe der Afghanistankrieg die sowjetische Jugend kaum politisiert. Laut Kaminer habe man sich als sowjetischer Hippie nicht als Teil des sowjetischen Staates gesehen. Entsprechend habe man sich für die Kriege des Staates weder interessiert, noch habe man sich für diese verantwortlich gefühlt. Tatsächlich sei es den Hippies stets nur darum gegangen, sich innerhalb des Sowjetsystems seine eigenen Freiheiten zu erkämpfen.

Ein wichtiges Thema hierbei war die Arbeitspflicht in der Sowjetunion. Da das Arbeiten innerhalb der Hippiebewegung verpönt gewesen sei, habe man sich Tätigkeiten ausdenken müssen, um nicht als „Schmarotzer“ im Gefängnis zu landen. Diese Lebensweise habe der Staat jedoch grundsätzlich zugelassen. So berichtet Kaminer, er selbst habe in seiner Moskauer Kommune keinerlei Probleme mit der Staatsmacht und der Polizei gehabt. Insgesamt habe in seiner Erfahrung in der Sowjetunion die Devise vorgeherrscht: „Wir wollen den Staat nicht und der Staat will uns nicht“. Das habe alles in allem gut funktioniert.

Dem widersprach Juliane Fürst. Zwar sei es richtig, dass die individuellen Freiheiten des Einzelnen relativ groß waren und man sich eine Parallelwelt jenseits des Staates aufbauen konnte. Nichtsdestotrotz habe es immer wieder Konfliktpunkte mit dem Staat gegeben, wie beispielsweise dem Militärdienst. Zwar ließen sich auch solche Zwänge umgehen, etwa dadurch, sich als schizophren auszugeben, um dem Armeedienst zu entkommen. Diese Freiheiten hatten jedoch ihren Preis. Hatte man einmal eine solche Diagnose erhalten und in seinen Akten vermerkt, bestand jederzeit die Gefahr, verhaftet und in eine psychiatrische Klinik eingeliefert zu werden. Dies sei, insbesondere an wichtigen Staatstagen, auch regelmäßig passiert, um die Anhänger*innen der Subkulturen aus dem Straßenbild zu entfernen.

Dementsprechend stellte Fürst auch die von Kaminer angeführte Nachsicht des Staates gegenüber den jungen Hippies zumindest partiell in Frage. Tatsächlich hätten die sowjetischen Autoritäten nach dem Auftauchen der ersten Hippies in den frühen 1970er Jahren zunächst nicht gewusst, wie man sich ihnen gegenüber verhalten solle. Immerhin war die öffentliche sowjetische Wahrnehmung der US-Hippies, die sich gegen den Vietnamkrieg aussprachen und ein antikapitalistisches Selbstverständnis pflegten, grundsätzlich positiv. Als jedoch die Anzahl der sowjetischen Hippies ab 1971 in die Höhe schoss und diese es auch noch wagten, in Moskau eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg zu organisieren, ging der Staat gegen sie vor. Daher dürfe man, resümierte Fürst, nicht von einem generellen Gewährenlassen des Staates sprechen. Vielmehr handele es sich hierbei um ein Wechselspiel zwischen Nachsicht und Repression: Man konnte Hippie sein, musste hierfür aber auf Karriere, Studium und ähnliches verzichten.

Die geplante Demonstration gegen den Vietnamkrieg ist in den Augen Fürsts darüber hinaus ein Beleg dafür, dass die These von der vermeintlich apolitischen Einstellung der sowjetischen Hippies zumindest hinterfragt werden müsse. Dies gelte umso mehr für den Krieg in Afghanistan. Entgegen den Selbstverortungen der Zeitzeug*innen, die sich in Interviews als genuin apolitisch beschrieben, offenbaren Archivdokumente, dass zu Beginn des Krieges 1979/80 durchaus Pamphlete gegen den Krieg als Teil einer generellen Befreiung vom Staat in der Hippiegemeinde kursierten. Erst in den späteren 1980er Jahren sei dieses Engagement zunehmend in Vergessenheit geraten und die Identifikation mit apolitischen Themen wichtiger geworden. Generell dürfe man laut Fürst auch nicht vergessen, dass die sowjetische Hippiebewegung, anders als etwa in den USA, nicht genuin antimilitärisch eingestellt war. Durch die Sozialisierung im Sowjetsystem war auch unter den Hippies ein gewisser Patriotismus und der Glaube an die Einzigartigkeit des russischen Volkes vertreten.

Doch was wurde aus den sowjetischen Hippies während der Perestrojka und vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Welche Parallelen gibt es zwischen ihnen und der heutigen Jugend in den postsowjetischen Staaten, die gegen die illiberalen Tendenzen etwa in Russland oder in Belarus auf der Straße protestieren? Nach eigener Aussage bekam Wladimir Kaminer von der Perestrojka persönlich kaum etwas mit. Mit dem Untergang der Sowjetunion hingegen habe im Lauf der 1990er Jahre ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden, der auch an der Hippiebewegung nicht spurlos vorbeigegangen sei. Die Erfahrungen im Sowjetsystem hätten solidarisierend gewirkt: „Das eigene Unglück war ein Teil des allgemeinen Unglücks“. Auch die Entstehung der sowjetischen Hippiebewegung sei ein solcher Solidarisierungsversuch gewesen. Als sich in den 1990er Jahren das Unglück zu einer individuellen Aufgabe wandelte, habe dies die Gesellschaft entkräftet und die alternative Hippieszene verschwand sukzessive aus dem Stadtbild.

Diese Entwicklung bestätigte Juliane Fürst. So lasse sich in historischer Perspektive eine Hinwendung der Hippieszene zum Konservatismus und zur Orthodoxie erkennen, die in den 1980er Jahren aufgrund des subversiven Charakters noch nicht zu erkennen gewesen sei. Das strenge Dogma der orthodoxen Kirche der 1990er Jahre färbte auch auf viele Hippies ab, die sich zu intoleranten Bürger*innen entwickelten. Ein berühmtes Beispiel hierfür stellt etwa der ehemalige Hippie und heutige Theologe Alexander L. Dworkin dar, der verantwortlich für die Verhaftungen von Zeugen Jehovas in Sibirien sei. Dennoch beobachtet Fürst aktuell eine leichte Trendwende. Noch vor fünf Jahren sei sie der Überzeugung gewesen, dass die illiberalen Tendenzen, die in der russischen Kunst bereits in den 1990er Jahren vorhanden waren, heute gesellschaftlicher Mainstream seien. Doch wende sich nicht nur in Russland die Jugend wieder vermehrt dem Sozialismus und dessen Subkulturen zu. Neu hierbei ist die Feminismusdebatte. Bands wie etwa „Pussy Riot“ stellen ihre Weiblichkeit und ihre Sexualität provokativ dar. Hierin besteht laut Fürst der Bruch mit den alten Subkulturen. Somit führte der tiefgreifende Schock der Erfahrungen nach 1991 sukzessive dazu, dass sich wieder mehr junge Menschen in den postsowjetischen Staaten einem System zuwenden, in dem für Kaminer eben „alles möglich“ und für Fürst genauso „alles unmöglich“ war.

Aufzeichnung auf Deutsch:

Veranstaltungsbericht (PDF, 141 kB)

Datum:
24.10.2021, 12:00 Uhr bis 13:30 Uhr

Ort:
Hansa-Bibliothek
Altonaer Str. 15
10557 Berlin und online

Sprache(n):
Deutsch

Eintritt:
Eintritt frei

Kooperationspartner:
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