Die Russische Invasion in die Ukraine – Perspektiven der historischen Sicherheitsforschung

Geschichte als Sicherheitsdilemma

Der russische Angriff auf die Ukraine wurde geschichtspolitisch mit der historischen Einheit von Russen, Belarussen und Ukrainern legimitiert. Im Fokus der Diskussion steht die Geschichtspolitik in Russland und der Ukraine in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Dabei geht es um die grundlegende Frage, inwieweit Geschichtspolitik als Symptom von Unsicherheitswahrnehmung und Konflikt gedeutet werden kann.

Input: Heidi HEIN-KIRCHER (Marburg)
Diskutanten: Martin AUST (Bonn), Andreas UMLAND (Stockholm / Kyiv)
Moderation: Gabriele FREITAG (Berlin)

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Veranstaltungsprogramm

Flyer_3_Mai (PDF, 787 kB)


Veranstaltungsbericht

Die europäische Sicherheitsordnung ist durch die russische Invasion in die Ukraine in ihren Grundfesten erschüttert worden. Die Veranstaltungsreihe „Die Russische Invasion in die Ukraine – Perspektiven der historischen Sicherheitsforschung“ bot anhand konzeptueller Fragen der historischen Sicherheitsforschung eine Einordnung der Ereignisse in historisierender Perspektive.

Den Auftakt machte die Veranstaltung „Geschichte als Sicherheitsdilemma?“. Dabei ging es um die geschichtspolitische Legitimation des Angriffs auf die Ukraine und die grundlegende Frage, inwieweit Geschichtspolitik als Symptom von Unsicherheitswahrnehmung und Konflikt gedeutet werden kann. Die Historiker*innen Heidi HEIN-KIRCHER und Martin AUST und der Politikwissenschaftler Andreas UMLAND  diskutierten zudem die russische und ukrainische Geschichtspolitik der vergangenen zwanzig Jahre.

In einem kurzen Input befasste sich Hein-Kircher zunächst mit der Instrumentalisierung von Geschichte in der Rhetorik des russischen Präsidenten Vladimir Putins, der eine angebliche historische Einheit von Russland, der Ukraine und Belarus postuliert, um die eigenen politischen Ziele zu rechtfertigen. Den Angriff auf die Ukraine habe er somit von seiner zweiten Amtszeit an geschichtspolitisch vorbereitet und durch die selektive Kombination historischer Elemente das Bedrohungsszenario einer anti-russischen Ukraine geschaffen. Der russische Anspruch auf die Ukraine sowie die angebliche Notwendigkeit einer Entnazifizierung der Ukraine wurden so historisch begründet. Auf diese Weise habe Putin wiederum die Wahrnehmung von (Un)Sicherheit in der Gegenwart beeinflusst und ein Sicherheitsdefizit in Russland geschaffen. Hein-Kircher sieht eine solche Strategie als ein dezidiertes Krisenphänomen zur Mobilisierung der Bevölkerung an, das zu einem. Sicherheitsdilemma geführt habe.

Auf den Einwand von Martin Aust, dass der Begriff des Sicherheitsdilemmas in diesem Kontext problematisch sei, verwies Hein-Kircher auf die Tatsache, dass die russische Invasion auf deutlich mehr Widerstand gestoßen sei, als es die historische Ableitung hätte vermuten lassen können, weswegen Putin nun neue Erklärungen und Erzählungen finden müsse. Aus dem ursprünglichen Narrativ von Sicherheit sei letztendlich eine viel größere Unsicherheit für Russland entstanden. Daher sei der Begriff des Sicherheitsdilemmas auch für die Situation Russlands in der Ukraine zutreffend.

Den einleitenden Erläuterungen Hein-Kirchers fügte Aust weitere eigene Beobachtungen hinzu. Bereits in seiner dritten und vierten Amtszeit seien Putins Äußerungen zur Ukraine radikaler, der Zusammenhang zwischen historischer Argumentation und Sicherheit offensichtlicher geworden. In seiner Geschichtspolitik habe sich der Präsident auf die sich widersprechenden Traditionen des Russischen Reichs und der Sowjetunion bezogen, was seinen entideologisierten Umgang mit der Vergangenheit zeige. Putin habe eine 1000-jährige Staatsgeschichte und ein russisches Imperium postuliert, da es ihm um den Erhalt der eigenen Macht gehe. Die Absprache des Existenzrechts der Ukraine als Staat und Nation habe gezeigt, wie ernst diese historischen Erörterungen genommen werden müssen.

Auf die Bedeutung von Geschichtspolitik in der Ukraine verwies in der Folge Andreas Umland. Zu Beginn habe es sich bei der Verwendung historischer Bezüge in politischen Kontexten noch um innenpolitische Strategien gehandelt, wie beispielsweise bei der aktiven Geschichtspolitik unter Präsident Juschtschenko zur Rehabilitierung ukrainischer Unabhängigkeitskämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg. Erst die russische Rhetorik habe die ukrainische Geschichte für außenpolitische Zwecke instrumentalisiert und so ein Sicherheitsdilemma geschaffen. Besonders habe sich das am Beispiel des nationalistischen Partisanenführers Stepan Bandera gezeigt, der in der Ukraine ein Symbol für den Unabhängigkeitskampf ist, während ihn die russische Propaganda als Teil des europäischen Faschismus darstelle. Die ukrainische Geschichte sei selektiv dargestellt und passend umgedeutet worden, um so eine Bedrohung für Russlands Sicherheit zu konstruieren. Seit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine 2014 habe die Geschichtspolitik in der Ukraine jedoch nochmal eine ganz andere Dimension erhalten, so Umland. Es seien Nationalisierungstendenzen deutlich geworden, wie unter anderem Präsident Poroschenkos Versuche einer Dekommunisierung von 2015 zeigen. In diesem Zusammenhang verweis Hein-Kircher auf die Notwendigkeit, zwischen innen- und außenpolitischen Zielen der Geschichtspolitik zu unterscheiden.

Umland kritisierte zudem die Tatsache, dass das Bild, das Außenstehende von der Ukraine hätten, häufig ein Produkt russischer Propaganda und westlicher Berichterstattung sei. So sei die Bandera-Bewegung keinesfalls das zentrale Thema der ukrainischen Geschichtspolitik, andere Themen würden aber in der Außenperspektive kaum berücksichtigt. Dies sei problematisch, denn eigentlich spiele die Geschichtspolitik in allen osteuropäischen Staaten vor dem Hintergrund der jeweiligen Sicherheitslage eine besondere Rolle. Aust schloss sich dieser Kritik an und erörterte, dass es auch in Deutschland verschiedene Deutungen der Geschichte gebe, wie man anhand des unterschiedlichen Umgangs in Ost- und Westdeutschland mit der Kriegsschuld sehe.

Abschließend wurde die Frage diskutiert, ob diesbezüglich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der deutschen Geschichte und der daraus erwachsenden Verantwortung feststellbar sei. Für Aust war dies nach wie vor eine offene Frage, denn die vielbesprochene Zeitenwende sei für ihn auch eine Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit.

(Pauline Fell)

Geschichte als Sicherheitsdilemma - Audio (MP3, 89.505 kB)

Datum:
03.05.2022, 17:00 Uhr bis 18:00 Uhr

Hinweis:
Die Veranstaltung findet online statt.

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

Flyer_3_Mai (PDF, 787 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Kooperationspartner:
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