Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban: Tektonischer Wandel in Zentralasien?
Im Juli dieses Jahres fand in Taschkent eine Konferenz unter dem Titel "Afghanistan: Sicherheit und ökonomische Entwicklung" statt. Die zentralasiatischen Staaten signalisierten ihr Interesse an einer pragmatischen Zusammenarbeit mit den Taliban als neuen Machthabern im Nachbarland. Den Taliban bot die Konferenz ein Forum, um für internationale Unterstützung und Investitionen zu werben. Vor allem Usbekistan baut auf eine Normalisierung der Beziehungen in der Hoffnung, dass eine gestärkte Taliban-Regierung das Risiko grenzüberschreitender terroristischer Angriffe vermindert.
Mit ihrer proaktiven Politik gegenüber Afghanistan grenzen sich die zentralasiatischen Nachbarn von der Haltung der westlichen Staatengemeinschaft ab. Auch China plädiert für ein Ende der Sanktionen gegen die neuen Machthaber. Gleichzeitig ist unklar, ob Russland angesichts des Kriegs gegen die Ukraine noch über Kapazitäten verfügt, um weiter als Ordnungsmacht in der Region aufzutreten. Die Podiumsdiskussion geht der Frage einer engeren regionalen Kooperation in Zentralasien nach und erörtert, welche externen Akteure sich für eine politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit anbieten.
Es diskutieren:
Beate Eschment, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin
Alexander Libman, Freie Universität Berlin
Katja Mielke, Bonn International Centre for Conflict Studies
Moderation: Gabriele Freitag, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin
Nach der Podiumsdiskussion laden wir Sie ein, das Gespräch bei einem kleinen Empfang fortzusetzen.
Veranstaltungsbericht
Im Juli 2022 fand in Taschkent eine Konferenz unter dem Titel „Afghanistan: Sicherheit und ökonomische Entwicklung“ statt. Die zentralasiatischen Staaten signalisierten dabei ihr Interesse an einer pragmatischen Zusammenarbeit mit den Taliban als neuen Machthabern im Nachbarland. Damit grenzen sich die zentralasiatischen Nachbarn von der Haltung der westlichen Staatengemeinschaft gegenüber den Taliban ab.
Auch China plädiert für ein Ende der Sanktionen gegen die neuen Machthaber. Ob Russland angesichts des Kriegs gegen die Ukraine noch über Kapazitäten verfügt, um weiter als Ordnungsmacht in der Region aufzutreten, ist unklar. Die Podiumsdiskussion ging der Frage einer engeren regionalen Kooperation in Zentralasien nach und erörterte, welche externen Akteure sich für eine politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit anbieten.
DIE TALIBAN ALS NACHBAR
Katja Mielke (Bonn International Centre for Conflict Studies) skizzierte die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Taliban. Afghanistan sei ein zentraler Knotenpunkt des transnationalen Handels, könne aber aus eigener Kraft keinen nennenswerten wirtschaftlichen Wandel herbeiführen. Dafür fehlten den Taliban die ökonomischen Grundlagen, auf denen sie eigenständig Handel aufbauen könnten. Sie seien daher auf internationale Partner angewiesen, denen sie glaubhaft machen wollten, selbst stabiler Partner zu sein. Wichtigste Voraussetzung für die künftige Zusammenarbeit mit den unmittelbaren Nachbarn sei dabei, dass es den Taliban gelingt, die islamistische Opposition im eigenen Land auszuschalten.
In der Tat haben andere radikal-islamistische Gruppen Afghanistan nach der Übernahme der Taliban nicht verlassen, sondern sind als deren Gegner im Land geblieben. Das Abkommen von Doha, welches 2020 als erster Schritt für Verhandlungen zwischen Afghanistan und den USA unterzeichnet wurde, habe die Bedrohung im Inneren nicht unterbinden können. Mielke verwies darauf, dass die Taliban nun beweisen müssten, dass sie den Einfluss dieser Gruppen mindern und die Sicherheit der Grenzen garantieren können.
Beate Eschment (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin) erläuterte die Positionen der einzelnen Staaten Afghanistans gegenüber den Taliban: Die Vielzahl innenpolitischer Herausforderungen Afghanistans spiegele sich in den unterschiedlichen Strategien der Regime Zentralasiens im Umgang mit den Taliban wider. Das von einer neuen Offenheit geprägte post-Karimov Usbekistan unter Präsident Shavkat Mirsiyoyev wolle in der Region eine Führungsrolle einnehmen. Anstatt zu blockieren bemühe sich die usbekische Führung um Annäherung und wolle Afghanistan als Teil Zentralasiens (und der Welt) einbinden. Dabei sei ihr bewusst, dass solch eine Einbindung die Gefahr eines „spill-over“ islamistischer Ideologien aus dem Süden mit sich bringe. Zentral sei der Schutz der eigenen Bevölkerung, die als ethnische Minderheit in Afghanistan lebt ebenso, wie das allgemeine Interesse an Stabilität und Kontrolle der potentiell gefährlichen islamistischen Bewegungen in Afghanistan, konstatierte Eschment.
Tadschikistan bewege sich hingegen auf Konfrontationskurs. Staatsführer Rahmon inszeniere sich als Retter der Tadschiken und scheue sich nicht, die Gefahr der Bedrohung durch die Taliban konsequent nach außen zu kommunizieren. Damit hoffe er, für sein wirtschaftlich zermürbtes Land politische Unterstützung und internationale Finanzierung einzuwerben.
AN ANDEREN FRONTEN: KASACHSTAN ZWISCHEN RUSSLAND UND CHINA
Für Kasachstan wiederum, bemerkte Eschment, seien die Taliban eine geringe Bedrohung. Stattdessen seien es vielmehr China und Russland, deren Einfluss sich in der Region nach dem Fall Kabuls und mit Kriegsbeginn 2022 neu ordne. Das als wirtschaftlich stärkste Land Zentralasiens wahrgenommene Kasachstan befinde sich somit zwischen diesen Fronten. Alexander Libman von der Freien Universität Berlin analysierte die Position des Landes gegenüber den beiden großen Nachbarn im Norden und Osten folgendermaßen: Kasachstan wende sich mehr und mehr von Russland ab, gleichzeitig zeige sich Präsident Qasym-Jomart Toqaev in seinen Äußerungen gegenüber dem nördlichen Nachbarn diplomatisch – auch wenn die russische Führung inzwischen selbst die nationale Integrität Kasachstans in Frage stellt. China sei, trotz des Konflikts um die Repressionen gegen die muslimischen Uiguren in Xinjiang und sinophober Stimmungen in Kasachstan, an Stabilität in Zentralasien interessiert. Beispielhaft dafür stehe die neue strategische Partnerschaft beider Staaten.
Büßt Russland damit in Zentralasien ein, was China zugutekommt? Laut Libman hätten beide Regime bislang eine Arbeitsaufteilung in der Region verfolgt und größere Konflikte vermieden. Sie teilten das Interesse an stabilen autoritären Regimen in Zentralasien als Partner und wollten dem Westen, oder konkret: den USA, keine Chance einer Intervention geben.
DAS VERHÄLTNIS RUSSLANDS UND CHINAS GEGENÜBER DEN TALIBAN
An der Vielzahl der international geförderten und teils schon Jahrzehnte alten Infrastrukturprojekte in Afghanistan habe Russland laut Libman kein Interesse, vielmehr an sicheren, schnellen Routen von Ost nach West. Auch für China spielten die in Zentralasien angesiedelten Projekte keine Schlüsselrolle. Das eigene Projekt, die „One Belt One Road Initiative“, werde indes vorsichtig neu gedacht. Daher sei China im Hinblick auf konkrete Investitionen in Afghanistan eher zurückhaltend. Es bestehe zwar Interesse an den in Afghanistan in großen Mengen vorhandenen Rohstoffen und Bodenschätzen, mangelnde Infrastruktur habe deren Abbau bisher jedoch verhindert. Eine Veränderung dieser Umstände stehe bisher nicht in Aussicht.
Der ehemals „starke Partner“ Russland, so Libman, sei in seiner wirtschaftlichen Bedeutung in Zentralasien schon lange von China überholt worden. Die Grundlage des gemeinsamen Handels sei die Eurasische Wirtschaftsunion. Diese befinde sich in einem paradoxen Schlafmodus. Als Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sei der international sanktionierte Partner Russland für Kasachstan und Kirgisistan wenig interessant für eine nachhaltige wirtschaftliche Zusammenarbeit. Abhängig vom Ausgang des Kriegs entstünden so verschiedene Zukunftsszenarien für die Wirtschaftsgemeinschaft. So könne die Eurasische Wirtschaftsunion als neue Zahlungsunion oder Industrieunion auftreten oder sie bleibe bestehen als marktliberaler Verbund, dafür geschaffen, Sanktionen zu umgehen.
Nach dem Fall von Kabul baue Putin auf die informelle Kommunikation mit den Taliban, die in Russland als Terrororganisation eingestuft sind. Allerdings, so Mielke, sei dies keine gewinnbringende Situation für Afghanistan, da Russland als unbeständiger Partner gilt, der keine ernsthaften Strategien der Zusammenarbeit plant. Ein weiterer Akteur in der Region seien die USA. Der Konflikt zwischen Russland und den Vereinigten Staaten ist nach Einschätzung Mielkes nicht nur in Bezug auf Afghanistan relevant, sondern beeinflusst auch das „Interesse“ der beiden Länder an Zentralasien.
DIE EUROPÄISCHE UNION UND DIE TALIBAN
In der Diskussion mit dem Publikum rückte vor allem die Lage der Menschenrechte in Afghanistan in den Vordergrund. Diese seien entscheidend für die künftigen Beziehungen der Europäischen Union zu Afghanistan. Mielke vertrat dabei einen pragmatischen Standpunkt: Die Politisierung der Frauenrechte betrachtete sie als ein Beispiel dafür, wie problematisch es sei, rote Linien für die Zusammenarbeit zu erklären. Mit einen Drahtseilakt zwischen regimefernen und bevölkerungsnahen Positionen habe die EU bisher nur wenig Einfluss zeigen können. Deutschland übe eher sanften Druck auf die Taliban aus. Einen wirksamen Hebel, um die Lage der Zivilgesellschaft oder Wirtschaft nachhaltig zu verbessern, habe Deutschland aber auch nicht.
Veranstaltungsbericht / Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban (PDF, 333 kB)