Sicherheit durch Intervention?
Der Angriffskrieg auf die Ukraine löste eine politische und mediale Debatte über die Instrumentalisierung von angeblich humanitären Zielsetzungen für die Begründung von Interventionen aus. In historischer Perspektive ist dieser Nexus keinesfalls neu, sondern hat eine jahrhundertelange Tradition. Rechtfertigt der (vorgebliche) Schutz von Bevölkerung militärische Interventionen?
Input: Christian WENZEL (Marburg)
Moderation: Werner DISTLER (Marburg)
Expert*innen: Thilo MARAUHN (Gießen), Caroline VON GALL (Köln)
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Veranstaltungsprogramm
Flyer_10_Mai (PDF, 787 kB)
Veranstaltungsbericht
Neben einer Debatte um die Instrumentalisierung historischer Narrative löste der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch eine politische und mediale Diskussion darüber aus, inwiefern vorgeblich humanitäre Zielsetzungen für die Begründung von militärischen Interventionen herangezogen werden sollten. In historischer Perspektive ist dieser Nexus keinesfalls neu, sondern hat eine jahrhundertelange Tradition. Bei der zweiten Veranstaltung der Reihe "Die Russische Invasion in die Ukraine – Perspektiven der historischen Sicherheitsforschung" diskutierten Christian WENZEL, Thilo MARAUHN) und Caroline VON GALL darüber, ob der (vorgebliche) Schutz der Bevölkerung militärische Interventionen rechtfertige.
Wenzel stellte zu Beginn seine konzeptionellen Überlegungen über die Begründung militärischer Interventionen durch den Bezug auf Fragen der Sicherheit vor. Er definierte dabei Sicherheit als eine konstruktivistische und kommunikativ ausgehandelte Kategorie, deren Deutung situativ und vom jeweiligen Standpunkt abhängig sei. Folglich handle es sich um einen relationalen Begriff, der anhand der Frage nach „whose security?“ eingeordnet werden könne. Die Interpretation von Sicherheit beinhalte dadurch ein erhebliches Konfliktpotential. Ein enger Zusammenhang zwischen Sicherheit und Intervention, wie in der Leitfrage der Veranstaltung formuliert, existiere seiner Ansicht seit der Frühen Neuzeit. In dieser Zeit seien vornehmlich zwei Begründungsmuster zur Legitimation militärischer Interventionen herangezogen worden: einerseits der vorgebliche Schutz fremder Untertanen, deren (meta)physische Sicherheit durch die über sie herrschenden Personen nicht ausreichend gewährleistet war, andererseits der Zwang zur Intervention, wenn es darum ging, die eigene Reputation zu sichern.
Marauhn schloss sich Wenzels Definition von Sicherheit an. Da die Sicherheit des einen oft auch die Unsicherheit des anderen bedeute, seien Interventionen sowohl als Mittel der Sicherheitsproduktion als auch als Ursache eines Unsicherheitsproblems zu sehen. In seiner Rede am 24. Februar.2022 verwendete Russlands Präsident Vladimir Putin sowohl die Bedrohung der eigenen Sicherheit als auch den nötigen Schutz fremder Untertanen – in diesem Fall die russischsprachige Bevölkerung im Donbass – als Argumente, um den Krieg zu rechtfertigen. Hier werde deutlich, wie Sicherheit benutzt wird, um politisches Handeln und militärische Interventionen zu legitimieren.
Laut von Gall betone der Westen besonders häufig den Völkerrechtsverstoß Russlands. Ihr stelle sich jedoch auch die Frage, wie Völkerrecht im russischen staatlichen Diskurs verwendet werde. Generell werde das Völkerrecht häufig zur Rechtfertigung herangezogen. Seit der Annexion der Krim habe der argumentative Rückgriff darauf jedoch abgenommen. Das Völkerrecht werde auf verschiedenen Ebenen instrumentell-strategisch genutzt: Es sei wichtig, um das eigene Handeln zu rechtfertigen. So werden für die Invasion in die Ukraine humanitäre Gründe und die Schutzverantwortung als Legitimation herangezogen, ebenso wie der vermeintliche Rechtsbruch des Westens mit dem Völkerrecht und die sich daraus ergebende Unsicherheitssituation für Russland. Darüber hinaus interpretiere Russland den eigenen gegenwärtigen Bruch mit der Norm des Völkerrechts aber auch als Zeichen der Stärke. Von Gall betonte die konsequente politische Instrumentalisierung des Völkerrechts zur Rechtfertigung von Invasionen. Auch wenn Putin die internationale Teilhabe am Völkerrecht und die Bindung daran immer wichtig gewesen sei, so habe er auch Vorbehalte dagegen gehegt. Deutlich zeige sich dies in den ständigen Verweisen auf die Souveränität Russlands. Von Gall warf dabei die Frage nach dem Umgang des Westens mit dieser Situation auf. Verweise auf die Verstöße des Völkerrechts seien elementar, gleichzeitig müsse man aber auch diskutieren, was die unterschiedlichen Wertvorstellungen in Russland und im Westen für das Völkerrecht bedeuten. Auch Wenzel verwies auf einen solchen Aushandlungsprozess über die Bedeutung des Völkerrechts.
Marauhn warf einen genaueren Blick auf die Bedeutung des Völkerrechts im Westen. Seiner Ansicht nach sei der Umhang damit schwierig und unsicher. In seiner Argumentation bezog er sich auf das Gewaltverbot der UN-Charta. Diese lege die Modalitäten der Konfliktausübung fest. Auch hier sei die Argumentation ‚Sicherheit durch militärische Intervention‘ zu finden. Ein Verstoß gegen das Gewaltverbot sei jedoch nur zum Schutz der internationalen Sicherheit erlaubt. Allerdings sei schon 1945 darüber gestritten worden, ob humanitärer Schutz und Schutzverantwortung legitime Gründe für eine Intervention seien. Leider versuche man heute nicht mehr, Modalitäten für die Konfliktausübung zu finden, sondern achte hauptsächlich auf die Motive eines Konflikts.
Da Marauhn einen Friedenszustand in der Ukraine vorerst für unmöglich hält, sollte das Ziel nun ein Waffenstillstand sein. Dafür brauche es aber eine gemeinsame Basis der Kommunikation zwischen Russland und dem Westen. Da dies jedoch nicht auf der Basis gemeinsamer Werte geschehen könne, betonte er die Rolle der Sprache. Durch klare Begrifflichkeiten könnten Interpretationsräume und Begriffsauslegungen des Waffenstillstands ausgeschlossen werden. Wenzel merkte hierzu an, dass eine gemeinsame Gesprächsebene zu finden schwierig sei, wenn ein Bedrohungsnarrativ für die eine Seite zu einer Erzählung der Sicherheitsproduktion der anderen Seite werde, so wie es zwischen der Ukraine und Russlands der Fall sei.
Die Teilnehmenden sparten jedoch auch nicht mit Kritik am Westen. Von Gall zufolge habe dieser in vielen Situationen zu spät reagiert. Sie kritisierte auch die Struktur des multilateralen Völkerrechtvertrags. In einem kleineren Format hätte auf russischer Seite weniger unbemerkt ein abweichendes Verständnis des Völkerrechts entstehen können. Ihr sei jedoch die Differenzierung zwischen russischem Regime und Bevölkerung wichtig, denn lediglich ersteres hätte diese abweichende Deutung zu verantworten. Ebenso wie Marauhn plädierte sie dafür, dass Europa nicht auf die russische Interpretation eingehen dürfe. Marauhn wies darüber hinaus darauf hin, dass die deutsche Außenpolitik Verstöße gegen das Völkerrecht von russischer Seite kaum kritisiert und das Völkerrecht so geschwächt habe. Wenzel kritisierte zudem, dass Russland in der Vergangenheit nicht mehr Verständnis entgegengebracht wurde. Die Osterweiterungen der NATO seien damals von russischer Seite als Bedrohung wahrgenommen worden. Der Westen habe dies jedoch als Vorwand abgetan und nicht versucht, diese Angst nachzuvollziehen. Dadurch habe keine Basis für eine gemeinsame Kommunikation entstehen können.
(Pauline Fell)