Dialog im Krieg | Krieg im Dialog

Belarus. Stimmen, Gedächtnis – die Zukunft

»Der Krieg ist zurück in Europa« – diese seit dem 24. Februar 2022 oft geäußerte Ansicht ist ein Euphemismus. Der Krieg war seit dem 8. Mai 1945 vom Kontinent nicht verschwunden. Er setzte sich in anderen Erscheinungsformen fort, und er tobt mit äußerster Brutalität in der Ukraine, die nach dem Willen der russischen Führung zerstört werden soll.

Intellektuelle aus der Ukraine flüchteten aus der zerstörten Heimat und kamen in die Städte Europas. Sie leben, arbeiten, lernen und lehren hier – und weltweit. Ebenso Oppositionelle, die vor Repression und Terror ihre Heimat Russland und Belarus verließen.

Autor*innen aus der Ukraine, Russland und Belarus stellen in vier getrennten Veranstaltungen Texte über den Krieg und seine Auswirkungen über die Grenzen des Landes hinaus vor. Sie erkunden die Ursachen des Konflikts und sprechen über zukünftige Strategien.

Zu Gast am dritten Abend sind die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, der Politikwissenschaftler Artyom Shraibman und Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa.

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Veranstaltungsbericht

»Man muss vor allem den Schleier der Fremdheit zerreißen, der Weißrussland umgibt. Wir sind ja für die Welt eine Terra incognita, ein unbekanntes, unerforschtes Land. Von Tschernobyl wissen alle, aber nur in Verbindung mit der Ukraine und mit Russland.« Mit diesen eindringlichen Worten der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aus ihrem Werk „Tschernobyl“ eröffnete Initiator Thomas MARTIN den dritten Abend der Veranstaltungsreihe „Dialog im Krieg – Krieg im Dialog“. Über die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf Belarus diskutierte Manfred SAPPER, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa mit den Politikwissenschaftler*innen Astrid SAHM und Artyom SHRAIBMAN.

Zu Beginn standen die landesweiten Proteste gegen die umstrittene Präsidentschaftswahl von 2020 im Mittelpunkt. Sahm identifizierte verschiedene Gründe, die für das Scheitern der Revolution ausschlaggebend gewesen seien. So habe sich die staatliche Elite nicht auf die Seite der Demonstrant*innen gestellt oder die Proteste in irgendeiner Art und Weise unterstützt. Im Gegenteil – mit anhaltender Unterstützung und Hilfe aus Russland versuchte die Elite, die eigene Position zu sichern, was zu einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen dem russischen Präsidenten Putin und der belarusischen Führungselite führte. Darüber hinaus, so Sahm seien veraltete Institutionsformen sowie die mangelhafte Organisation der Opposition, die zum Teil auf die jahrelange Unterdrückung durch das Regime zurückzuführen sei, für ein Scheitern der Proteste verantwortlich gewesen.

Auf die Frage nach der anhaltenden Regimestabilität in Belarus beschrieb Shraibman, wie sich das Regime die Loyalität und Unterstützung ausgewählter Personen sichert. Dies geschehe einerseits durch Belohnungen für loyale Verhaltensweisen, andererseits aber auch durch die Unterdrückung von Opposition und Dissens. Sahm verwies zudem auf die Beständigkeit der belarusischen Institutionen seit den 1990er Jahren. Dies habe nur begrenzten Raum für Modernisierung und Entwicklung gelassen. Der entscheidende Faktor sei aber Lukaschenka selbst. Dieser habe in der Vergangenheit bewiesen, dass er in der Lage sei, wirtschaftliche Krisen zu bewältigen und sich so insbesondere in der Transformationsphase der frühen 1990er hervorgetan.

Sahm verwies noch einmal auf die belarusischen Eliten. Diese hätten ihre Ausbildung hauptsächlich in der Sowjetunion oder in Belarus erhalten und beherrschten daher oft nur Russisch und Belarusisch. Eine Veränderung des politischen Systems, wie sie insbesondere durch eine Annäherung an den Westen zustande kommen könnte, berge daher für diese Gruppe das Risiko, ihre Karriereaussichten zu gefährden.

Die belarussische Wirtschaft im Schatten des Krieges

Trotz der Kritik an den Wahlfälschungen blieben die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und Belarus nach 2020 weitgehend bestehen. Shraibman erklärte, dass die anfänglichen Sanktionen nur geringfügige Auswirkungen auf das Land gehabt hätten und erst Mitte 2021 ernsthafte Sanktionen folgten. Dabei erhole sich die belarusische Wirtschaft schneller als zunächst erwartet. Der Grund hierfür liege darin, dass der belarusische Markt stärker an den russischen angebunden wurde. Russland unterstütze Belarus wirtschaftlich, im Gegenzug seien belarusische Waren für Russland zu günstigen Konditionen verfügbar. Dies habe beispielsweise zu einer erhöhten Nachfrage Russlands nach belarusischen Autos, aber auch nach Uniformen geführt und mildere gleichzeitig die Ängste der belarusischen Bürger*innen vor einer möglichen Rezession. Die Sanktionen hätten sich daher als weniger effektiv als erwartet erwiesen, auch aufgrund der der Erschließung neuer Märkte in Ländern wie China und Afrika. Außerdem verfüge der belarusische Staatsapparat über umfangreiche Erfahrung in der Steuerung der Zentralwirtschaft.

Dennoch bleibe die Sorge um den Verlust des Status Quo in der Bevölkerung bestehen, so Schraibman. Der Krieg gegen die Ukraine brachte Belarus in eine schwierige Situation, da zuvor sowohl Russland als auch die Ukraine enge Nachbarn und Verbündete waren. Noch vor dem Krieg habe sich die Bevölkerung gleichzeitig gen Westen und in Richtung Russlands orientiert, nun sei der Wunsch nach einer Annäherung an die EU stärker, während das Land selbst immer abhängiger von Russland wird. Viele junge Menschen haben Belarus daher verlassen, was eine Modernisierung erschwert, ganz zu schweigen von den Herausforderungen, die dies für das Rentensystem mit sich bringt.

Die Angst vor der Verhaftung

In den letzten drei Jahren habe sich die Situation in Belarus stetig verschlechtert, bemerkte Shraibman. Dies habe auch mit einer verschärften Gesetzgebung zu tun. Jedes Mal, wenn er ein Interview über sein Heimatland gebe, verstoße er gegen das Gesetz. Sogar der Konsum ausländischer Medien über einen Telegram-Account kann zu einer Gefängnisstrafe führen. Die Menschen in Belarus fürchteten sich mittlerweile sogar, oppositionelle Nachrichten zu lesen oder auf externe Informationen zuzugreifen, denn die Angst vor einer Verhaftung sei groß. Jeden Tag verliere jemand im Gefängnis oder in einer der vielen Strafkolonien sein Leben. Führende Persönlichkeiten ehemaliger Freiheitsorganisationen dürften oft keinen Kontakt mehr zu ihren Familien pflegen, und einige Familien wissen nicht einmal mehr, ob ihre Angehörigen noch leben. Das plötzliche und rätselhafte Verschwinden von Maria Kalesnikova sei nur eines von vielen Beispielen. Glück in der heutigen belarusischen Realität  sei es bereits, keine langjährige Haftstrafe zu erhalten, so der Politikwissenschaftler.

Sahm verwies eindringlich auf die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit für die Situation in Belarus in Deutschland und im Westen insgesamt immer weiter abnehmen könnte. Belarus werde häufig als ‚Ko-Aggressor' im Ukraine-Konflikt angesehen, was dazu führe, dass der Fokus sich verschiebe. Gleichzeitig wies Sahm darauf hin, dass eine erhöhte Sichtbarkeit nicht zwangsläufig mehr Schutz für die belarusische Bevölkerung und die unschuldig Inhaftierten bedeute, sondern oftmals andere Gefahren mit sich bringe.

In diesem Zusammenhang berichtete Shraibman, dass Briefe an belarusische Repräsentant*innen und Institutionen mit der Forderung nach Freilassung politischer Gefangenen und eine internationale Aufmerksamkeit durchaus Auswirkungen hätten — allerdings nicht immer im positiven Sinne. Das Regime reagiere auf diese Briefe und eine zunehmende Aufmerksamkeit oft mit einer Verschärfung der Repressionen im Land, was unter anderem zu verstärkter Folter im Gefängnis führen kann. Shraibman vertrat die Ansicht, dass Briefe und internationale Bemühungen nur dann wirklich helfen können, wenn Minsk bereit ist, in einen Dialog einzutreten und Veränderungen zuzulassen.

Die Rolle der Diaspora

Die belarusische Diaspora umfasst weltweit etwa 300.000 bis 500.000 Belarus*innen, von insgesamt rund 9 Millionen Staatsbürger*innen. Shraibman zufolge ist das erste Anlaufziel für die Diaspora Polen, gefolgt von Litauen, Georgien, der Ukraine, Russland und Deutschland. Die Diaspora erfülle eine wichtige Rolle, indem sie Gedanken und Informationen verbreite, die in Belarus selbst oft nicht ausgesprochen, im Land aber durchaus gelesen werden können. Diese Aktivitäten schafften teilweise auch mehr Aufmerksamkeit für die Situation im Land, was von keiner oppositionellen Diaspora in vergleichbarem Maße geleistet werde.

Sahm teilte die Ansicht, dass die Aufmerksamkeit für Belarus im Westen wichtig sei. Allerdings gebe es in der belarusischen Diaspora nach wie vor keine klare politische Strategie. Besorgniserregend sei, dass die belarusischen Botschaften heute nicht einmal mehr Pässe ausstellen dürfen, was dazu führt, dass viele Belarus*innen gezwungen werden, nach Belarus zu reisen, um neue Dokumente zu erhalten. Nicht zuletzt habe der Mangel an grundlegenden Dokumenten wie Pässen schwerwiegende Konsequenzen für die Menschen und ihre Freiheit.

Datum:
20.09.2023, 19:00 Uhr

Ort:
St. Matthäus-Kirche
Matthäikirchplatz
10785 Berlin

Sprache(n):
Deutsch und Russisch, simultan gedolmetscht

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Kooperationspartner:
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