DGO-Jahrestagung

Flucht und Exil im östlichen Europa

Macht und Ohnmacht

English version see below

Krieg, Flucht und Exil prägen erneut die Entwicklungen im östlichen Europa. Fast zehn Millionen Menschen sind seit dem 24. Februar 2022 aus der Ukraine geflohen. Gleichzeitig haben sich Belarus und Russland zu Diktaturen entwickelt. Über eine Millionen Menschen haben diese Länder aus Furcht vor politischer Verfolgung oder Einberufung in die Armee verlassen. Der Aderlass hält an.

Die baltischen Staaten, Polen, Georgien, aber auch Deutschland sind Zufluchtsorte geworden. Alte und neue Exil-Gruppen treffen aufeinander, die Gemeinschaften der Diaspora sind heterogen und dynamisch. Die Flüchtlinge ringen um gesellschaftlichen und politischen Einfluss auf ihre alte und neue Heimat.

Die Gesellschaften in den Aufnahmeländern wiederum schwanken zwischen Solidarität und Ablehnung, politischer Unterstützung und Angst vor Unterwanderung. Und die Regierungen dieser Länder fürchten, ihre eigene Handlungsfähigkeit zu verlieren. Dadurch entstehen Auseinandersetzungen um Handlungsmacht auf unterschiedlichen Ebenen.

Die Konferenz beleuchtet die gegenwärtigen Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven.
Das Programm befindet sich am Ende der Seite.


Displacement and Exile in Eastern Europe: Power and Paralysis

War, flight, and exile are once again shaping developments in Eastern Europe. Almost ten million people have fled Ukraine since 24 February 2022. At the same time, Belarus and Russia have evolved into dictatorships. More than a million people have left these countries for fear of political persecution or conscription. The exodus continues.

The Baltic States, Poland, Georgia, as well as Germany have become places of refuge. Old and new exile groups come into contact with one another. The diaspora communities are heterogeneous and dynamic. The refugees struggle to exert social and political influence on their old and new homelands.

In turn, societies in host countries oscillate between solidarity and rejection, political support and a fear of being undermined themselves, while governments in these countries fear losing their ability to act. In this situation, disputes over agency arise at different levels.

This conference aims to shed light on current developments from a variety of perspectives.
For the programme please see below.


Veranstaltungsprogramm

Programmflyer d/en (PDF, 555 kB)

Konferenzbroschüre / conference broschure (PDF, 6.304 kB)

(c) Katarzyna Mazur
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Veranstaltungsbericht

Bericht: Tamina Kutscher

„I am not a victim. I’m a survivor“ – 18 Schwarz-Weiß-Porträts unterschiedlicher Frauen aus der Ukraine, die im Jahr 2022 wegen des russischen Angriffskriegs nach Berlin geflohen sind, empfangen die Besucher*innen. Dazu Kurztexte, in denen die Frauen zu Wort kommen. Diese Ausstellung, erstellt von Oleksandra BIENERT, war im ersten Stock des „Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zu sehen und sie rahmte die DGO-Jahrestagung 2023 in vielerlei Hinsicht: „Ob wir wollen oder nicht – jede Fluchtbewegung und jeder Krieg wirft irgendwann auch die Frage nach Darstellung und Archivierung auf“, betonte Gundula BAVENDAMM, Direktorin des gastgebenden Dokumentationszentrums in ihrer Eröffnungsrede. DGO-Präsident Ruprecht POLENZ machte deutlich: „Es geht hier nicht nur um einen Forschungsgegenstand, sondern um Schicksale.“

Und solche Schicksale rückte der Eröffnungsabend in den Fokus: Luisa Maria SCHULZ, Preisträgerin des erstmals vergebenen Karin-Wolff-Preises der Jungen DGO, las eingangs aus ihrem Text „Wir sind die, die wach liegen“. Es ist der Monolog einer Flüchtenden, darin sagt die Ich-Erzählerin: „Wir gehen durch die Stadt, aber wir setzen uns nicht lang. Wir denken an unser Leben wie an Socken auf einer Wäscheleine, die drohen, wegzufliegen.“

Dieses Gefühl des Volatilen fing Saxophonspieler Mikolay LEBED mit der Sprache der Musik ein. Schriftsteller Jurko PROCHASKO, der auch als Psychologe arbeitet, war für die Eröffnungsrede aus Lwiw nach Berlin angereist. „Flut der Flucht“ überschrieb er seine Rede, und formulierte sein Bedürfnis, „jetzt schon, obwohl es für die allermeisten noch gar nicht ausgestanden ist, jeden Tropfen [zu] denken, den diese Flut umfasst“.

Den interdisziplinären Eindruck des Abends verstärkte die Preisträgerin des Klaus-Mehnert-Preises 2023 Acelya BAKIR mit ihrer Dissertation „Sehen, Hören, Mitmachen: Die mediale Inszenierung der Moskauer Schauprozesse und die Mobilisierungskampagnen in der Sowjetunion, 1936–1938“. Die Autorin beziehe Theorien und Methoden aus den Kulturwissenschaften mit ein, wenn sie Fragen der Dramatisierung und Performanz in den Schauprozessen behandelt, betonten die beiden Laudatoren, Anja TIPPNER und Jan KUSBER. So sei eine „breite Medienanalyse“ und ein „ganz neuer Blick auf Schauprozesse“, der nicht nur für Historiker*innen interessant sei, gelungen.

Kritische – und durchaus kontroverse – Töne gegenüber der Wissenschaft gab es dagegen im anschließenden Panel, moderiert von Manfred SAPPER, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa. So sagte Andrii PORTNOV, Professor für Entangeled History of Ukraine an der Europa-Universität Viadrina, die Osteuropa-Wissenschaft brauche „eine neue analytische Sprache, um die Ukraine genau zu verstehen“. Er sehe diese noch nicht. Gwendolyn SASSE, Direktorin des ZOiS, warb dafür, nicht zu defensiv zu sein: „Es gibt und gab gute Forschung zur Ukraine, und es gibt strukturelle Gründe, warum sie nicht gesehen wurde und warum sie im öffentlichen Raum nicht präsent genug“ sei. Wichtig sei zum Beispiel Nachhaltigkeit in den Strukturen und im Bildungssystem. Wenn auf viele neue Lehrstühle leider auch nicht zu hoffen sei, so sei es wichtig, die Ukraine auf verschiedenen Ebenen des Bildungssystems zu verankern. Dazu gehörten etwa Curricula und Schulbücher.

Herausforderungen für die Aufnahmegesellschaften

Standen am ersten Abend noch die Ukraine und auch ukrainische Geflüchtete im Mittelpunkt, so eröffnete der zweite Tag gleich am Morgen den Blick auf die Perspektiven der Aufnahmegesellschaften:

Um strukturelle Fragen rund um Flucht und Exil in Polen, Lettland und Georgien ging es im ersten Panel, das Volker WEICHSEL, Redakteur der Zeitschrift Osteuropa, moderierte. Dabei wurde unter anderem deutlich, dass mangelnde staatliche Sozialstruktur häufig durch die Zivilgesellschaft aufgefangen wird: In Polen etwa gebe es kaum sozialen Wohnungsbau. Daten aus dem Herbst 2022 zeigten dafür, dass „neun Prozent der Flüchtenden aus der Ukraine bei ukrainischen Freunden, elf Prozent bei polnischen Freunden“ leben, so Karolina LUKASIEWICZ vom Center of Migration Research in Warschau. Die meisten Ukrainer*innen hätten temporäres Asyl und stünden damit auch sofort dem Arbeitsmarkt zur Verfügung – Asylbewerber*innen aus Nahost seien demgegenüber stark benachteiligt. Ähnlich sei es in Lettland. So zeige das Beispiel der ukrainischen Geflüchteten, „wie viel man auch sonst machen könnte, um Flüchtende zu integrieren“, meint Inta MIERINA vom Centre for Diaspora and Migration Research in Riga. In Georgien, wo der Sozialstaat weniger stark sei, hätten viele Dienstleister*innen Geflüchteten aus der Ukraine Leistungen oftmals umsonst zukommen lassen, berichtet Kornely KAKACHIA vom Georgian Institute for Politics in Tbilissi. Ambivalenter dagegen sei die Haltung gegenüber exilierten Russ*innen. Man konkurriere um Arbeitsplätze, auch Miet- und Immobilienpreise seien etwa in Batumi stark angestiegen. „Das führt auch zu Feindseligkeiten“, sagt Kakachia. Es habe zwar noch keine Zusammenstöße gegeben, aber durchaus Spannungen. Ähnliches gelte für Lettland, wo Russischsprachige oftmals in einen Topf geworfen würden, was auch russischsprachige Ukrainer*innen und Belarus*innen mitunter negativ zu spüren bekämen, so Mierina. Einig waren sich die Panelist*innen  darin, dass die Solidarität und Unterstützung für ukrainische Geflüchtete in den jeweiligen Gesellschaften auch nach über einem Jahr weitgehend ungebrochen sei.

Gundula Bavendamm kam anschließend im Gespräch mit DGO-Geschäftsführerin Gabriele FREITAG auf den Begriff „Versöhnung“ zu sprechen – und den Umgang des Dokumentationszentrums mit diesem Begriff im eigenen Namen: „Es ist eine Möglichkeit, an die dieser Begriff erinnert“, sagte sie. Man wolle dabei nicht bevormunden und könne nichts verlangen. Ähnlich formulierten auch die Organisator*innen der Tagung immer wieder, es solle auf der Konferenz um Analyse der derzeitigen Situation gehen und nicht um eine Moderation des Dialogs zwischen unterschiedlichen Gruppen.

In parallelen Panels diskutierten die Konferenzteilnehmer*innen anschließend aus unterschiedlichen Blickwinkeln über „Flucht und Exil im östlichen Europa“:

1) Exilliteratur als Weltliteratur

Was ist Exil, was Diaspora, was Exil-, was Weltliteratur? Unter Moderatorin Schamma SCHAHADAT nahm sich das Panel zunächst einer Begriffsdefinition an. Dabei merkte Heinrich KIRSCHBAUM an, dass Menschen sich oftmals nicht über Substantive wie „Exil“, „Diaspora“ oder „Geflüchtete“ definierten, sondern über Verben, wie „ich bin ausgereist“. Annette WERBERGER betonte, dass der Begriff Diaspora ursprünglich eine „Zerstreuung ohne Zentrum“ meine. Die Ukraine hatte mehrere Zentren, aber kein nationales Zentrum, insofern passe der Begriff „diasporisches Schreiben“ sehr gut. Werberger problematisierte dabei die nationalstaatliche Perspektive: Der Minderheitenbegriff etwa sei ein nationalstaatlicher Begriff, der Doppel- oder Mehrsprachigkeit nicht berücksichtige, wie sie beispielsweise für die Literatur der Ukraine kennzeichnend sei. Doch „die Weltliteratur bevorzugt Einsprachigkeit“, stellte sie fest. Und zwar Einsprachigkeit in einer „großen“ Sprache: „Wenn man keine Nationalliteratur, keinen Nationalstaat hat, hat man auch kein Exil. Man gilt dann als folkloristischer Schriftsteller.“
Die belarusische Übersetzerin und Essayistin Iryna HERASIMOVICH warb dafür, Interesse und Wagnis dagegen zu setzen. Im von ihr mitinitiierten Projekt „33 Bücher für ein anderes Belarus“ etwa gehe es darum, Räume anders aufzuteilen, bislang Unsichtbares sichtbar zu machen, die „Blickrichtung“, die immer nur gen Russland oder der russischen Sprache ging, zu wechseln. So gebe es auch Konzepte in der belarusischsprachigen Literatur, die den Raum jenseits nationaler Kategorien beschreiben, etwa das der „Tutejschije“ (Hiesigen) von Janka Kupala.

Diese Art der „Dekolonialisierung“ brauche einen langen Atem, war sich das Podium einig. Claudia DATHE warb dafür, auf einer methodischen Ebene Themen stark zu machen, um die Blickrichtung zu ändern und dabei nicht erneut in nationale Kategorien zu fallen.

Außerdem betonte sie, dass man oftmals nicht abgeschlossen von einer Exilexistenz sprechen könne: „Die meisten Künstlerinnen und Künstler haben mehrere Existenzen in mehreren Räumen, die sie in einer Art iterativer Bewegung miteinander in Verbindung bringen.“ Man müsse wiederum Räume schaffen, um diesen Prozess zu sehen und zu reflektieren.

2) Die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge aus lokaler Perspektive

Das Panel versammelte in Gestalt von Oleksandra BIENERT von der Allianz Ukrainischer Organisationen, dem Leiter des Fachbereich Arbeit und Soziales der Stadt Mannheim, Jens HILDEBRANDT, und Nora RATZMANN vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung praktisches Wissen, Verwaltungswissen und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Praxis der Aufnahme und Integration von Frauen, Kindern und Männern aus der Ukraine in Deutschland. In seltener Klarheit zeigte sich, dass die Bewältigung sozialer Krisen sehr konkret in Städten und Gemeinden gelingt – oder scheitert. Die Bundesregierung hat die Weichen gestellt mit der Entscheidung, die aus der Ukraine vor dem Krieg flüchtenden Menschen rechtlich in das Sozialgesetzbuch II einzuordnen. Doch danach waren es lokale Verhältnisse und kommunale Strategien, die über Wohl und Weh bestimmen. Die aus der Ukraine ankommenden Menschen hatten und haben gegenüber vielen anderen Migrantengruppen einen großen Vorteil. Sie sind überwiegend gut ausgebildet und verfügen über eine entscheidende Kompetenz: "Sie haben gelernt, wie man lernt" (Hildebrandt). So viel ukrainische Landsleute und eine überaus solidarische deutsche Gesellschaft auch in den ersten Tagen und Wochen des Krieges geleistet haben: ohne die kommunalen Behörden, die Hilfe bei der Suche nach adäquaten Wohnungen, der Schulung von Erwachsenen und der Beschulung von Kindern, der Arbeitssuche und vielen anderen Dingen der Alltagsbewältigung geben, ist Integration nicht möglich. Dies gilt umso mehr, als nach weit über einem Jahr Krieg und einer Verwüstung weiter Landstriche im Südosten und Osten der Ukraine von der Hoffnung auf Rückkehr in die alte Heimat wenig geblieben ist. Statt dessen steigt der Anteil der Männer unter den Geflüchteten und beträgt mittlerweile in einer sicherlich als repräsentativ zu betrachtenden Stadt wie Mannheim auch in der Altersgruppe 18 bis 65 Jahre fast 40 Prozent.

3) Solidaritätsnetzwerke und Bruchlinien in den russischsprachigen Communities

Das Panel beleuchtete die Dynamiken innerhalb der russischsprachigen Communities zwischen Formen von Solidarität und Brüchen in der eigenen Identität seit der russischen Invasion in der Ukraine. Moderatorin Annemarie POLHEIM betonte, dass viele russischsprechende Menschen in Deutschland bei der Aufnahme und Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine engagiert seien, auch wenn es keine offiziellen Statistiken gebe. Wanja KILBER informierte über die Aktivitäten von Quarteera e.V., dessen Vorstand sich im vorigen Jahr explizit an LGBT-Gruppen aus der Ukraine gewandt habe. Die anschließend gegründete Wohnungsbörse sei ein erfolgreiches Beispiel für gelungene Solidaritätsnetzwerke. Darüber hinaus wurde ein Podcastprojekt initiiert, in dem die Biographie von 32 queeren Geflüchteten vorgestellt wird.
Alina JAŠINA-SCHÄFER fügte hinzu, dass der Grund für ein Bestehen oder Nicht-Bestehen von Solidarität in den transnationalen Verbindungen zwischen den Ländern, in denen noch Russisch gesprochen wird, zu finden sei. Weil familiäre und freundschaftliche Beziehungen in die Ukraine bestanden, habe der Krieg unmittelbar auf das persönliche Leben Einfluss genommen. Darüber hinaus habe der Krieg oftmals mit dem Aushandeln von eigenen Identitäten in Verbindung gestanden, da er zu Rissen in der Selbstwahrnehmung von Russischsprachigen geführt habe. Oftmals sei die russische Sprache dann zum Vehikel geworden, um Geflüchteten aus der Ukraine zu helfen. Allerdings gebe es auch Fälle, in denen die Ablehnung des russischen Angriffskriegs nicht zwingend mit Solidarität gegenüber ukrainischen Geflüchteten einhergeht.

Alexander MEIENBERGER kontextualisierte diese Ausführungen mit seiner eigenen Forschung zur Funktionsweise der russischen Stiftung Russki Mir. Diese habe als Hauptaufgabe, die russischsprachigen Communities zu bewahren und an den russischen Staat und dessen Narrative zu binden. Auch wenn österreichische Universitäten die direkte Kooperation beendet haben, bestehen vor dem Krieg gegründete Zentren weiterhin und verbreiten Kreml-nahe Positionen.

4) Gefährdete Wissenschaftler*innen

Die Soziologinnen Anastasiya LEUKHINA (Kyjiw / ZOiS Berlin) und Oksana DUTCHAK (Kyjiw, Goethe-Universität Frankfurt am Main) beleuchteten im ersten Teil des Panels die Situation von Wissenschaftlerinnen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind. Da Männer im Alter bis zu 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen dürfen, sind es überwiegend Frauen, die versuchen, an deutschen Wissenschaftseinrichtungen Fuß zu fassen. Viele von ihnen sind nun erzwungenermaßen alleinerziehend, was ihre Arbeitssituation enorm erschwert. Dabei fühlen sie sich in Deutschland schnell mit der Erwartung konfrontiert, zur Arbeitsnormalität zurückzukehren. Neben der Wissenschaft und der Kinderbetreuung werden viele Wissenschaftlerinnen in Deutschland auch zu Aktivistinnen. Dies birgt Herausforderungen für die Ansprüche an die eigene wissenschaftliche Arbeit, zum Beispiel dann, wenn publizierte Daten von der russischen Propaganda ausgenutzt werden können.  Auch die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit ändert sich unter den Bedingungen des Krieges. Während viele ukrainische Wissenschaftlerinnen sich nur noch dann öffentlich mit Kolleg*innen aus Belarus und Russland austauschen, wenn bereits Kontakte bestanden und die politische Haltung bekannt ist, werden neue Netzwerke wie der „dialogue of peripheries“ mit Wissenschaftler*innen aus Südamerika, Ostasien oder anderen Weltregionen zunehmend attraktiv. Schon jetzt ist absehbar, dass viele Wissenschaftlerinnen, deren Kinder sich gut in das deutsche Bildungssystem integrieren, in Deutschland bleiben werden. Das dadurch entstehende „gender gap“ wird sich auch auf die weitere Entwicklung der Wissenschaften in der Ukraine auswirken.

In zweiten Teil des Panels stellte Alexander KALGIN (Moskau / Constructor University Bremen) die Ergebnisse einer Umfrage unter russischen Wissenschaftler*innen im Exil vor, von denen die meisten individuell aus Russland ausgereist sind. Bei der anschließenden Arbeitssuche sehen sich viele von ihnen mit einer völlig neuen Struktur konfrontiert. Während allerdings die Arbeitssuche in Russland vor allem über Netzwerke funktioniert, dominiert in westlichen Staaten die Logik des Arbeitsmarktes. Kalgin plädierte dafür, bei der Integration exilierter Wissenschaftler*innen  in ausländische akademische Strukturen nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Forschergruppen kollektiv aufzunehmen. Vor dem Hintergrund des Kriegs irritierte allerdings, dass die Gründe für die Ausreise aus Russland bei seinen Überlegungen für eine Integration in den ausländischen Arbeitsmarkt keine Rolle spielten. Tatiana SHCHYTTSOVA (Minsk/ Europäische Humanistische Universität Vilnius) beschrieb die Situation und Funktion belarusischer Wissenschaftler*innen im Exil als die einer sehr verletzlichen Gruppe, die gleichzeitig einen wichtigen Faktor für die Transformation des Landes darstellt. Die meisten Wissenschaftler*innen hätten Belarus nicht präventiv, sondern aufgrund einer unmittelbaren Bedrohung verlassen. Viele von ihnen engagierten sich nun auch im öffentlichen Leben der Diaspora. Dabei erhielten die belarusischen Wissenschaftler*innen im Exil neue Möglichkeiten der Wissensproduktion, die auch zum sozialen Wandel in Belarus beitragen könnte.

Information und Austausch auf dem „Forum Flucht und Exil“

Am Nachmittag konnten sich die Konferenzteilnehmer*innen in parallelen, unterschiedlichen Formaten und Angeboten informieren:‚
Im sogenannten „Forum Flucht und Exil“ verbreitete sich anschließend Messe-Feeling. Dort stellte sich eine breite Palette von Organisationen und Initiativen vor, die zum Thema arbeiten. Das gastgebende Dokumentationszentrum führte Interessierte durch die ständige Ausstellung sowie die hervorragend ausgestattete Präsenzbibliothek des Hauses, die auch Externen offensteht.

Auch zwei Workshops wurden angeboten: „Science at Risks“ vom Akademischen Netzwerk Osteuropa, außerdem moderierte Sergey MEDVEDEV von Dekabristen e.V. eine Runde mit Vertreter*innen belarusischer und russischer Exilmedien in Deutschland.

Das Abschlusspanel führte die Teilnehmer*innen wieder zusammen und versprach unter Moderation von Sabine FISCHER, Status Quo und Perspektiven aufzuzeigen: Es ging um „Handlungsspielräume im Exil“ und führte einige der Fäden zusammen, die auf der Tagung bereits angeklungen waren. Tatiana Shchyttsova, Professorin für Sozialwissenschaften an der EHU Vilnius und Beraterin von Sviatlana Tsikhanouskaya in Bildungs- und Wissenschaftsfragen, bedauerte, dass die Belarus*innen derzeit politisch und öffentlich vergessen seien – und sich gleichzeitig auf den Moment der politischen Transition vorbereiteten. Oppositionspolitische und zivilgesellschaftliche Akteure könne man dabei nicht voneinander trennen. Als das Panel darüber diskutierte, wie hilfreich und sinnvoll es sei, russische und belarusische Vertreter*innen auf gemeinsame Podien einzuladen, äußerte Tatiana Shchyttsova die Befürchtung, dabei könnte ein Signal der „slawischen Bruderschaft“ ausgesendet werden, während die Situation in beiden Ländern sehr unterschiedlich sei. Darauf kam Widerspruch aus dem Publikum. So verwies Timm BEICHELT darauf, dass die wissenschaftliche Community ohnehin eine kleine sei, es gelte auch, Zusammenhänge herzustellen: „Die Möglichkeit, die Dinge im Zusammenhang zu sehen, muss aufgewogen werden gegen Betroffenheit.“

Insgesamt nahm das Panel europäische Institutionen stark in die Pflicht: Kirill MARTYNOV, Chefredakteur des russischen Exilmediums Novaya Gazeta Europe, unterstrich: „Wenn es für Russland eine Zukunft gibt, dann in Europa.“ So betonte auch MdB Robin WAGENER, Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit dem Südlichen Kaukasus, der Republik Moldau sowie Zentralasien: Wenn die Verteidigung der Ukraine auch erste Priorität sei, so sei es gleichzeitig wichtig, „Perspektiven zu schaffen für die belarusischen und russischen Exilgesellschaften“.

Veranstaltungsbericht (PDF, 150 kB)

Datum:
15.06., 18:00 Uhr bis 16.06.2023, 17:00 Uhr

Ort:
Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung
Stresemannstraße 90
10963 Berlin

Sprache(n):
Deutsch und Englisch, simultan gedolmetscht

Programm:

Programmflyer d/en (PDF, 555 kB)

Konferenzbroschüre / conference broschure (PDF, 6.304 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Kooperationspartner:
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