Fachtagung

Mental maps, hot spots und hot spaces

Literarisches Schreiben als Arbeit am Gedächtnis in Ost- und Ostmitteleuropa

Der Workshop knüpft an das Konzept der mental maps an und geht der Frage nach, inwiefern literarische Texte auch Akte des Kartographierens vollziehen. Ziel der Diskussionen ist die Identifizierung von Konfliktzonen und konfligierenden Narrativen in der literarischen Repräsentation von Räumen und deren Ordnungen in ost-, ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Literaturen. Im Mittelpunkt stehen vor allem jene Räume, deren territoriale Zugehörigkeit historisch oft umstritten war oder die im Zuge von kriegerischen Konflikten in den Vordergrund traten.

Der Workshop bietet Raum für Diskussionen darüber, inwiefern Literatur eigene Raumordnungen modelliert, im Einklang steht mit bestimmten politisch verordneten oder historisch entstandenen Verhältnissen oder gegen diese opponiert. Auch drängt sich die Frage auf, wie markante Orte oder Räume mit ihrer historischen Aufladung zu hot spots oder hot spaces der literarischen Imagination werden. Anhand exemplarischer Fallbeispiele werden die Potenziale von mental maps, hot spots und hot spaces für Ost-, Ostmitteleuropa und Südosteuropa erörtert.

Veranstaltungsprogramm

Programmflyer (PDF, 568 kB)


Veranstaltungsbericht

Vom 16. bis 18. November fand an der Universität Leipzig die Tagung der DGO-Fachgruppe Literatur- und Kulturwissenschaft zum Thema „Mental maps in Ost- und Ostmitteleuropa“ statt. Die von den Sprecher*innen der Fachgruppe, Anna ARTWINSKA und Alfred GALL organisierte Tagung erfolgte in Kooperation mit dem „Institut für Slavistik“ der Universität Leipzig und der „Abteilung Slavistik/Mainzer Polonicum“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

In thematisch breit gefächerten Beiträgen gingen die Teilnehmer*innen der Frage nach, inwiefern literarische Texte auch Akte des mentalen Kartographierens vollziehen und mit welchem methodologischen Instrumentarium diese adäquat analysiert werden können. Im Fokus stand v. a. die Identifizierung von Konfliktzonen und konfligierenden Narrativen in der literarischen Repräsentation von Räumen und deren Ordnungen in ost-, ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Literaturen. Diskutiert wurden vor allem Räume und Orte, deren territoriale Zugehörigkeit historisch strittig war, die im Zuge von kriegerischen Konflikten in den Vordergrund traten, bislang im öffentlichen Gedächtnis nicht präsent waren oder noch heute politische Kontroversen erzeugen. Ergänzend gab es Debatten über die literatur- und kulturwissenschaftlichen Methoden des Kartographierens (u. a. Lotmans Kultursemiotik, Postcolonial Studies, Raumtheorien).

Mit einführenden Erläuterungen zum Konzept der mental maps, allgemeinen Begriffsbestimmungen (hot spots, rich points, hot spaces) und einem Überblick über das Paradigma der Geopoetik in Ostmittel- und Osteuropa – unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen politischen Lage (Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten) – wurde die Fachtagung eröffnet. Es folgten Fallbeispiele aus unterschiedlichen Perspektiven. Diskutiert wurde als höchst aktuelles Thema der Donbas in seiner Transformation von der sowjetischen Modellregion zum Kriegsschauplatz sowie zur Projektionsfläche ungelöster politischer Konflikte. Als weitere Region im Wandel der literarisch modellierten Einordnung wurde auch Oberschlesien behandelt. Ein Beitrag zur Gestaltung öffentlicher Räume in Budapest analysierte Raum als Dimension der Erinnerung an die Shoah. Ein weiterer Beitrag beleuchtete den Stadtteil Cejl in Brno im literarischen Gedenken an den Porajmos, den Völkermord an den europäischen Roma in der Zeit des Nationalsozialismus.

Der Südkaukasus und dessen komplexe, höchst widerspruchsvolle Beziehungen zu Russland lieferte Beispiele für transnationale Konstellationen und mit ihnen verbundene Konfliktfelder. Aber auch in der hybridisierenden Grenzland-Poetik von Friedrich Gorenstein, der literarischen Verwendung von Dokumenten in der Gedächtnisarbeit bei Danilo Kiš und Svetlana Aleksievič oder in der Anfertigung von ethnographischen Karten zur Balkanhalbinsel zeigen sich konfligierende interkulturelle Verflechtungen. Systematisierende Impulsreferate dienten der methodisch-theoretischen sowie begrifflichen Akzentuierung. Dabei ging es um die Möglichkeiten und Grenzen der Postcolonial-Studies für die Ostmittel- und Osteuropastudien, eine kritische Sichtung der Geopoetik in Theorie und Praxis und um die Applikation des Begriffs Peripherie als Instrument für kultursemiotische und geokulturelle Analysen. Im Sinne der Nachwuchsförderung wurden dabei auch sechs Promotionsprojekte vorgestellt und diskutiert.

Zusätzlich fand eine Lesung mit der ukrainischen Autorin Natalka Sniadanko statt. Deren Roman mit dem Titel „Перше слідство імператриці“ (2021) / „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ bietet mit seiner epischen Rückschau auf die ukrainische Geschichte und deren Verbindung mit dem Herrscherhaus der Habsburger ein anschauliches Beispiel für mental maps in der Literatur und Gedächtnisbildung. Die Lesung wurde in Zusammenarbeit mit dem „Polnischen Institut Berlin – Filiale Leipzig“ durchgeführt.

Im Zentrum der Tagung stand die Frage, inwiefern Literatur eigene Raumordnungen modelliert, im Einklang steht mit bestimmten politisch verordneten oder historisch entstandenen Verhältnissen oder gegen diese opponiert. Die Diskussionen zeigten, dass sich mit dem Konzept der mental map, aber auch den griffigen Bezeichnungen hot spots und hot spaces, ertragreiche und anschlussfähige Perspektiven zur kulturwissenschaftlichen Erforschung raumorientierter literarischer Erinnerungsarbeit auftun.

Datum:
16.11. bis 18.11.2023

Ort:
Universität Leipzig
Beratungsraum im Institut für Slavistik (H5 4.16)
Beethovenstraße 15
04107 Leipzig

Sprache(n):
Deutsch

Programm:

Programmflyer (PDF, 568 kB)

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde