Politikum Baltikum

Die neue Rolle von Estland, Lettland und Litauen

Spätestens seit der Ausweitung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 sind auch die baltischen Staaten verstärkt in den Mittelpunkt des außen- und sicherheitspolitischen Inter­esses in Europa gerückt. Das politische Gewicht der Regierungen in Riga, Tallinn und Vilnius hat deutlich zugenommen. In der Diskussion geht es um die Einschätzung der sicherheitspolitischen Situation aus der Perspektive Estlands, Lettlands und Litauens und die Sicht der baltischen Staaten auf die Zukunft Europas.

Es diskutieren:

  • Maris Hellrand, Journalistin, Tallinn
  • Vytautas Jankauskas, Politikwissenschaftler, Ludwig-Maximilians-Universität, München
  • Reinhard Krumm, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Baltischen Staaten, Riga
  • Alda Vanaga, Botschafterin der Republik Lettland, Berlin

Moderation: Gemma Pörzgen, Chefredakteurin der Zeitschrift „Ost-West. Europäische Perspektiven“, Berlin

Einführung: Gabriele Freitag, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin

Im Anschluss laden wir zu einem kleinen Umtrunk ein.

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Veranstaltungsbericht

Bericht: Ella Tschitschigin

Spätestens seit der Ausweitung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 sind auch die baltischen Staaten verstärkt in den Mittelpunkt des außen- und sicherheitspolitischen Interesses in Europa gerückt. Das politische Gewicht der Regierungen in Riga, Tallinn und Vilnius hat deutlich zugenommen. In einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Zeitschrift OST-WEST – Europäische Perspektiven, dem Osteuropa-Hilfswerk Renovabis und der Katholischen Akademie in Berlin standen die sicherheitspolitische Situation in Europa aus der Perspektive Estlands, Lettlands und Litauens und die Sicht der baltischen Staaten auf die Zukunft des Kontinents im Fokus. Die Chefredakteurin der Zeitschrift „Ost-West. Europäische Perspektiven“, Gemma PÖRZGEN diskutierte darüber mit der Botschafterin der Republik Lettland in Berlin, Alda VANAGA, der estnischen Journalistin Maris HELLRAND, dem litauischen Politikwissenschaftler Vytautas JANKAUSKAS von der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Baltischen Staaten, Reinhard KRUMM.

Die (alte) neue Rolle der baltischen Staaten

Die lettische Botschafterin Vanaga konstatiert seit dem vollumfänglichen russischen Krieg gegen die Ukraine auch in Deutschland eine zunehmende Aufmerksamkeit für das Baltikum. Hellrand illustrierte dies anhand der ständig wachsenden Warteliste ausländischer Journalist*innen für ein Treffen mit der estnischen Premierministerin. Jankauskas unterstrich die Wichtigkeit, Deutschland zu erklären, warum die baltische Region von Relevanz sei. Die Rolle der baltischen Staaten in Europa werde durch die russische Herausforderung der europäischen Sicherheitsordnung nicht neu definiert, allerdings schenke man dieser nun mehr Aufmerksamkeit. Bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion hätten sich die baltischen Staaten in der Rolle der Aufklärer*innen über die sicherheitspolitischen Gefahren gesehen, die von Russland ausgehen. Dabei sei ihnen paradoxerweise vorgeworfen worden zu stark auf Russland fixiert zu sein. Hellrand warf ein, dass selbst Finnland die Sicherheitsbedenken Estlands nicht ernst genommen habe.

In diesem Zusammenhang erläuterte Krumm, dass Deutschland im Baltikum durchaus kritisch wahrgenommen werde. Obwohl Deutschland bereit sei, die baltischen Staaten zu unterstützen, erwarteten diese, in ihren Sicherheitsbedenken mehr gehört zu werden. Krumm verwies darauf, dass Deutschlands Geschichte mit der Sowjetunion eine andere sei als die der baltischen Staaten. Im Gegensatz zu Deutschland hätte man im Baltikum stets das Kriegsszenario als worst-case im Blick gehabt.

Unterschiedliche perspektiven auf Russland

Auf die Frage, wie Schwellenländer des globalen Süden, auf die Situation in Europa und spezifisch im Baltikum blickten, erklärte Botschafterin Vanaga, dass die Sicht auf den Krieg dort oftmals eine andere sei. Als Beispiel führte sie Brasilien an, wo sie selbst auch als Vertreterin Lettlands tätig sei. Die Stimmen der baltischen und anderer europäischer Staaten fehlten in den dortigen Debatten. Die Folgen des russischen Angriffskriegs gingen längst über Europa hinaus. Russland pflege schon lange Kontakte zu Ländern wie China und denen des globalen Südens und dominiere hier das Narrativ. Jankauskas berichtete von der großen sicherheitspolitischen Herausforderung, die Russland an den Grenzen der baltischen Staaten darstelle. Auch wenn sich die Stimmung in Vilnius mittlerweile stabilisiert habe, sei diese im vergangenen Jahr doch sehr angespannt gewesen. Daher hätten die baltischen Staaten aus Sorge um ihre eigene Sicherheit so viel für die Ukraine gespendet. Vanaga verwies darauf, dass Russland die Grenzen mit den baltischen Staaten verletze und einen Hybridkrieg betreibe, insbesondere durch Cyber-Angriffe. Sie erwarte aber keinen direkten militärischen Angriff. Im Gegensatz zu Litauen, wo Jankauskas zufolge die Angst grassiert habe, westliche (Militär)bündnisse könnten bei einem russischen Angriff nicht ausreichen, sei man – so die Botschafterin – in Lettland der Ansicht, dass die Bündnisse mit NATO und EU auch nach 20 Jahren noch stabil seien und man sich aufeinander verlassen könne

Die größeren Herausforderungen seien, so Vanaga die räumliche Nähe des Krieges und der damit verbundene Flüchtlingsstrom sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges. Die Inflation liege im Baltikum aktuell bei 21-22%, in Deutschland hingegen nur bei 9-10%. Trotz dieser Herausforderungen unterstützten die Balten die Ukrainer*innen intensiver, während in Deutschland vermehrt die Sorge aufkomme, dass man sich den Urlaub nicht mehr leisten könne. Krumm verwies zudem darauf, dass man im Baltikum vermehrt von „unserem“ Krieg spreche, während es in Deutschland lediglich „ein“ Krieg sei.

Die russischen Minderheiten

Krumm lenkte den Blick auf die russischsprachigen Minderheiten in Estland und Lettland. Diese Gruppe, die zusammen mit den Ukrainer*innen und Belarus*innen etwa 30% der Bevölkerung ausmache, sei keineswegs homogen. Die Bandbreite der Haltungen zu den baltischen Staaten sei äußerst vielfältig. In einer Umfrage zur Bereitschaft, wirtschaftliche Schwierigkeiten bei der Unterstützung der Ukraine in Kauf zu nehmen, zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den ethnischen Estinnen und Lettinnen und den jeweiligen russischsprachigen Minderheiten. Etwa 80% der erstgenannten Gruppe hätten die Frage bejaht, während die Minderheiten seltener zustimmten. Krumm betonte, dass es viele Fragen gebe, mit denen man sich auseinandersetzen müsse, um die Minderheiten besser zu verstehen. So müsse man auch darüber nachdenken, was es für die russischsprachigen Minderheiten bedeute, wenn das Land, das ihnen kulturell nahestehe, einen Krieg beginne. Auch die Frage, wie diese auf verschiedene Maßnahmen der baltischen Staaten reagieren, die gegen Russland gerichtet sind, sei von Bedeutung. Und auch die Folgen einer Abwendung Russlands von Europa für die Identität der Minderheiten müsse man im Blick behalten.

Die Ergebnisse der Untersuchung, so Krumm weiter, verdeutlichten, dass ein beträchtlicher Teil der Minderheiten in Estland und Lettland inzwischen eine enge Verbindung zu den Staaten, in denen sie leben, gefunden hätten. Besonders die jüngere Generation richte ihren Blick vermehrt in Richtung Europäische Union. Hellrand schloss sich an und hob hervor, dass der 24. Februar des vergangenen Jahres ein Scheitelpunkt für die russischsprachige Minderheit gewesen sei. Viele Menschen hätten erkennen müssen, dass es zahlreiche Risse innerhalb der eigenen Familien gibt.

Militärische Präsenz im Baltikum

Im Hinblick auf die veränderte militärische Sicherheitslage im Baltikum und die dortige NATO-Präsenz verwies Jankauskas auf die geplante dauerhafte Stationierung einer Kampfbrigade der Bundeswehr in Litauen. Eine der zentralen Fragen sei dabei, wie man die dortige Bevölkerung auf diese Präsenz vorbereiten könne. Die Ausgangslage sei aber positiv, denn 80 % der Menschen dort seien der Meinung, dass ausländische Truppen in Litauen stationiert werden sollten. Die deutsche Präsenz in Litauen werde sich daher aller Voraussicht nach positiv auf die Haltung zu Deutschland auswirken. Auch in Lettland werde Deutschland als ein wichtiger europäischer Motor in Angelegenheiten der Verteidigung betrachtet, so Botschafterin Vanaga.

Der Einfluss russischer Propaganda

Abschließend ging es um die russische Propaganda im Baltikum sowie den Spagat zwischen deren Eindämmung und der Gewährleistung von Meinungsfreiheit. Vanaga und Hellrand berichteten, dass Lettland bereits seit 2020 verstärkt gegen russische Propaganda vorgehe, ebenso wie Estland. Hellrand wies darauf hin, dass es sich dabei keinesfalls um ein Verbot russischer Sender handele, diese würden lediglich nicht mehr im öffentlichen Fernsehen ausgestrahlt. Dennoch könne jeder, der wolle, über das Internet darauf zugreifen

Krumm fügte hinzu, dass die russischsprachige Minderheit ohnehin kaum noch einem Medium vertraue und stattdessen Informationen aus dem Freundeskreis beziehe. Diese Thematik warf unter anderem die Frage auf, wie man zukünftig in Orten mit einer großen russischen Minderheit wie Narva oder Daugavpils vorgehen solle. Es sei schwierig, mit der Minderheit dort ins Gespräch zu kommen.

Weiterführende Lektüre:Die baltischen Staaten. Estland, Lettland, Litauen. OST-WEST. Europäische Perspektiven 3/2023

Datum:
25.10.2023, 19:00 Uhr

Ort:
Katholische Akademie in Berlin
Hannoversche Str. 5
10115 Berlin

Sprache(n):
Deutsch

Veranstalterin:
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Kooperationspartner:
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