Krieg in Europa. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen
Die europäische Friedensordnung ist mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in ihren Grundfesten erschüttert. Der Krieg ist ein Umbruch mit Konsequenzen für die gesamte Region, nicht nur für die Ukraine und Russland. Die Konferenz fragt nach den (sicherheits-)politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen dieser Eskalation für das Zusammenleben in Europa. Im Vordergrund steht dabei die Analyse des Paradigmenwechsels von der internationalen Interdependenz zur Entflechtung in allen relevanten Politikfeldern.
16. JUNI 2022
18:00 Uhr Eröffnung
Ruprecht POLENZ, Münster
Prolog
Yevgenia BELORUSETS, Kyiv
Victor MARTINOVICH, Minsk
Irina PROKHOROVA, Moskau*
Eröffnungsvortrag
Die Grenzen der Analogien: Der Krieg in der Ukraine als historische Zäsur
Jörn LEONHARD, Freiburg
19:00 Uhr Kommentar und Diskussion
Kateryna MISHCHENKO, Kyiv / Berlin
Moderation: Martin AUST, Bonn
20:00 Uhr Empfang
17. JUNI 2022
9:00 Uhr Podiumsdiskussion
Der Kampf der Ordnungen. Politische Ordnungsvorstellungen und außenpolitische Folgen
Ralf FÜCKS, Berlin
Nadiia KOVAL, Kyiv
Tatiana VOROZHEIKINA, Moskau
Moderation: Sabine FISCHER, Berlin
10:30 Uhr Kaffeepause
11:00 Uhr Podiumsdiskussion
Von Interdependenz zu Entflechtung. Konsequenzen für die Wirtschaft
Angelina DAVYDOVA, St. Petersburg / Berlin
Valeria GONTAREVA, London
Petr ZAHRADNÍK, Prag
Moderation: Katharina WAGNER, Moskau
12:30 Uhr Mittagspause
13:45 Uhr Podiumsdiskussion
Beginn oder Ende der Abschreckung? Sicherheit in Europa
Merle MAIGRE, Tallinn
Jana PUGLIERIN, Berlin
Ulrich SCHNECKENER, Osnabrück
Moderation: Andreas HEINEMANN-GRÜDER, Bonn
15:15 Uhr Kaffeepause
15:30 Uhr Podiumsdiskussion
Von Interdependenz zu Entflechtung: Gesellschaften im Schatten des Kriegs
Tymofii BRIK, Kyiv
Olga SHPARAGA, Berlin
Denis VOLKOV, Moskau
Moderation: Gabriele FREITAG, Berlin
17:00 Uhr Ende der Konferenz
*angefragt
Veranstaltungsprogramm
Conference broschure_war_in_europe (PDF, 2.096 kB)
Konferenzbroschüre_Krieg_in_Europa (PDF, 2.100 kB)
Krieg in Europa_Konferenzflyer_de (PDF, 791 kB)
War in europe_flyer (PDF, 796 kB)
Veranstaltungsbericht
Bericht: Gemma Pörzgen
Die europäische Friedensordnung ist mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in ihren Grundfesten erschüttert. Der Krieg ist ein Umbruch mit Konsequenzen nicht nur für die Ukraine und Russland, sondern weit über die Region hinaus.
Die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) stellte deshalb die Debatte über die sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen dieser Eskalation in den Mittelpunkt ihrer Jahrestagung in Bonn. Dabei ging es auch um die Analyse des Paradigmenwechsels von der internationalen Interdependenz zur Entflechtung in allen relevanten Politikfeldern.
Angesichts des Angriffs Russlands auf die europäische Friedensordnung sei der Titel der Konferenz sehr bewusst gewählt, sagte DGO-Präsident Ruprecht POLENZ zur Eröffnung. Die Trennungslinie verlaufe nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen denen, die die globale, gesetzmäßige Ordnung stärken wollten und denen, die das nicht täten.
Prolog aus Kyjiw, Minsk und Moskau
Mit persönlichen Erklärungen waren die ukrainische Schriftstellerin Yevhenia BELORUSETS aus Kyjiw und der Schriftsteller Viktor MARTINOVICH aus Minsk per Video zugeschaltet. Die Zukunft Europas und unseres Wertesystems entscheide sich anhand der existentiellen Frage nach der Unterstützung der Ukraine, sagte Belorusets. Martinovich erinnerte daran, wie aktuell die Schriften der Philosophin Hannah Arendt und ihre Gedanken über „kollektive Verantwortung“ heute seien.
Die Publizistin Irina PROKHOROVA aus Moskau sprach unter anderem von den engen Verbindungen zwischen Russland und der Ukraine: Jede dritte russische Familie habe ukrainische Angehörige. „Es ist ein persönliches Desaster, was da geschieht.“
Die Grenzen der Analogien
Eine erste historische Einordnung des Ukraine-Krieges als mögliche Zäsur in der Geschichte Europas wagte der Freiburger Historiker Jörn LEONHARD in seinem Eröffnungsvortrag über „Die Grenzen der Analogien: Der Krieg in der Ukraine als historische Zäsur“. Zur Erfahrung von Kriegen in der Geschichte gehöre regelmäßig, dass Szenarien, Pläne, Erwartungen, Prognosen einerseits und Dynamiken der Gewalt andererseits auseinanderfielen und damit den Formwandel des Krieges beschleunigten, sagte Leonhard. „Der Ausbruch großer und zunächst unabsehbar langer Kriege erschüttert Gesellschaften, weil das Denken in langen Kontinuitäten und Fortschrittsszenarien auf den Prüfstand kommt“, so der Historiker. Jeder Kriegsbeginn sei eine Hoch-Zeit für Welterklärer und die Produzenten von Verschwörungserzählungen. Leonhard warnte vor dem leichtfertigen Gebrauch historischer Vergleiche. „Geschichte muss abkühlen, bevor sie analysiert werden kann“, so Leonhard.
In der anschließenden Diskussion warf Schriftstellerin Kateryna MISHENKO die Frage auf, wer die Geschichte der Ukraine in der Zukunft erzählen werde. „Mich interessiert die Frage der Subjektivität, wie Geschichte erzählt wird und wer sie erzählt.“ Die ukrainische Subjektivität sei bedroht und es sei möglich, dass die Ukraine verschwinde, denn das sei das Ziel des russischen Krieges. Analogien hätten einen politischen Hintergrund, wenn man beispielsweise den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine mit dem „Nazi-Krieg“ vergleiche. Sie könnten Handlungsforderungen beinhalten.
Kampf der Ordnungen
In der Podiumsdiskussion über den Kampf der Ordnungen sah die Moskauer Politologin Tatiana VOROZHEIKINA, die Verantwortung für den Krieg nicht nur bei Putin; auch die russische Bevölkerung sei in der „kollektiven Verantwortung“. In den vergangenen 30 Jahren habe sich die russische Gesellschaft in einer Weise transformiert, in der die Interessen der Bevölkerung wenig berücksichtigt worden seien und der autoritäre Charakter beibehalten worden sei. Die Kriegsverbrechen in den ukrainischen Ortschaften wie Butscha oder Ilpin hätten ihre Vorläufer bereits in Tschetschenien gehabt. Sie sprach von einer „faschistischen Bedrohung“ durch die russische Führung. Anders aber als 2014 gebe es im öffentlichen Raum wenig sichtbare Unterstützung für den Krieg.
Nadia KOVAL vom Ukrainischen Institut in Kyjiw betonte, dass Ukrainer*innen und Russ*innen sehr unterschiedliche Wertvorstellungen hätten. Während für die Ukrainer die „Freiheit“ im Mittelpunkt stehe, gehe es Russen vor allem um „Ordnung“. Es gebe in ihrer Heimat eine noch nicht konsolidierte Demokratie, die aber im Fortschritt begriffen sei. Koval verwies auf die freien Wahlen und friedlichen Regierungswechsel in der Ukraine in den vergangenen Jahren.
Der Publizist Ralf FÜCKS von der Berliner Denkfabrik „Liberale Moderne“ sprach von einem „Kolonialkrieg“, der in der langen Linie des russischen Imperiums stehe. „Der Prozess der Dekolonialisierung ist in den 1990er Jahren nie abgeschlossen worden“, sagte Fücks. „Die Ukraine war immer das Kronjuwel des Imperiums“. Fücks wertete das Geschehen in der Ukraine als Teil eines umfangreicheren Krieges gegen den Westen. Es gehe um den Umsturz der globalen liberalen Weltordnung. Der Krieg in der Ukraine sei deshalb auch eine Bewährungsprobe für die Handlungsfähigkeit und Standhaftigkeit des Westens.
Von Interdependenz zu Entflechtung
Den Konsequenzen für die Wirtschaft wendete sich die folgende Diskussionsrunde zu. Die nach Berlin geflüchtete russische Journalistin Angelina DAVYDOVA machte deutlich, dass der russische Finanzsektor bislang mit den Sanktionen erfolgreich habe umgehen können. Im Technologiesektor werde man dagegen spätestens im Herbst erleben, dass viele Unternehmen ihre Produktion einstellen müssten, weil die Sanktionen sich auswirken würden. Die große Frage bleibe, ob parallele Importe über Drittstaaten Lücken in der Versorgung füllen könnte und welche Rolle China in Zukunft einnehme. „China hat in Russland nicht investiert“, sagte Davydova. Die Volksrepublik habe die globale Lage im Blick. Aus London war die frühere ukrainische Präsidentin der Nationalbank der Ukraine, Valeria GONTAREVA, per Video zugeschaltet. Sie wagte einen optimistischen Ausblick. Der Krieg in der Ukraine sei im Winter vorbei und das Land habe von den G7-Staaten und anderen Geldgebern ein umfangreiches Wiederaufbauprogramm zu erwarten. „Die ukrainische Wirtschaft ist eine gute und diversifizierte Wirtschaft“, sagte sie. In zwei bis drei Jahren werde die Ukraine vom Kandidaten zum EU-Mitglied werden, so Gontarevas Prognose. Der Prager Wirtschaftsberater Petr ZAHRADNÍK verwies auf die zentrale Bedeutung der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas innerhalb der EU. Er hob die beispiellose Solidarität mit der Ukraine und die strategische Einheit im Hinblick auf die Energie-Abhängigkeit hervor, mahnte aber auch an, dass dies keinesfalls ausreiche, um den Krieg zu beenden.
Beginn oder Ende der Abschreckung?
In Deutschland sei zu lange gedacht worden, die europäische Sicherheit könnte nur gemeinsam mit Russland gestaltet werden, kritisierte die Berliner Politologin Jana PUGLIERIN vom „European Council on Foreign Relations“ (ECFR), in der anschließenden Debatte über Sicherheit in Europa. Die Bundesrepublik habe sich zu sehr als zivile Handelsmacht eingerichtet und auf Sicherheitsgarantien der USA und NATO verlassen. Außerdem sei ein Landkrieg in Europa in Deutschland nicht mehr vorstellbar gewesen. Nun gebe es nach der „Zeitenwende“ keinen Weg mehr zurück. Puglierin rügte, dass die öffentlichen Debatten sich dennoch zu sehr um eine deutsche Nabelschau drehten und zu wenig darum, wie es in der Ukraine weitergehe. Putin dürfe mit dem Versuch einer nuklearen Erpressung nicht durchkommen.
Die estnische Expertin für Cyber-Sicherheit, Merle MAIGRE, äußerte die Sorge, dass viele Menschen des Krieges bereits müde würden und das Thema von den Titelseiten verschwinde. Dabei handele es sich in diesen Wochen um eine entscheidende Phase des Krieges. In Europa werde keine Grenze mehr sicher sein, wenn Putin seine Ziele erreiche. „Die Tür in die NATO und in die EU muss offenbleiben“, forderte sie. Das gelte für die Ukraine, Georgien und den Westbalkan.
„Die deutsche Politik sollte künftig der Osteuropaforschung zuhören und nicht nur dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft“, sagte der Friedens- und Konfliktforscher Ulrich SCHNECKENER. Die Russlandpolitik sei zu stark einem Interdependenzmodell gefolgt und die Pipeline Nordstream 2 sei das Symbol dafür. Dies habe aber zu einer Lebensgefährdung des osteuropäischen Raumes geführt. Die eigentliche Zeitenwende sei bereits 2014 erfolgt. Aber die Annexion der Krim sei in der Bundesrepublik noch nicht so wahrgenommen worden. Dem „Neo-Realismus“ als Erklärungsmuster für die Polarisierung des Diskurses erteilte er eine Absage; er habe wenig dazu beigetragen, das Geschehen zu erklären. Der Moderator des Panels, Andreas HEINEMANN-GRÜDER, warnte, dass der EU keine Zeit bleibe. „Biden ist möglicherweise der letzte Transatlantiker“, sagte der Bonner Politologe über die Entwicklungen in der US-Politik. „Ohne die USA wäre die Ukraine verloren.“
Blick in die Gesellschaft
Das Abschlusspanel widmete sich dem Zustand der Gesellschaften im Schatten des Krieges. DGO-Geschäftsführerin Gabriele FREITAG erinnerte daran, wie groß die Irritation in Deutschland darüber sei, dass es in Russland für den Ukraine-Krieg viel Zustimmung gebe. „Russland ist eine postsowjetische Gesellschaft, anders als die Ukraine“, sagte dazu Denis VOLKOV, Leiter des Moskauer Umfrageinstitut „Levada Zentrum“. In der Russischen Föderation seien staatliche Institutionen wie der Geheimdienst und andere Sicherheitsdienste seit den 1990 Jahren nie reformiert worden. Der Krieg habe nun dazu beigetragen, dass der Westen unpopulär sei. Vor allem Deutschland werde inzwischen sehr negativ gesehen. Allerdings interessierten sich junge Russ*innen tendenziell weiter für westliche Kultur und Musik. Sie hätten eine positivere Einstellung als die älteren. Kritisch äußerte sich Volkov dazu, dass russische Student*innen nicht mehr in der EU studieren könnten. Das sei langfristig wenig hilfreich und sende das falsche Signal.
Die Ukraine habe sich dagegen dramatisch verändert, sagte der über Video zugeschaltete Soziologe Tymofii BRIK von der „Kyiv School of Economics“. Umfragen zeigten, dass die Ukrainer die EU-Integration ebenso unterstützten wie eine Marktwirtschaft und Demokratie. Brik berichtete zudem, dass Umfragen zeigten, dass die Hälfte aller Ukrainer immer noch Kontakt zu Verwandten und Freund*innen in Russland hätten. „Viele halten Kontakt“, sagte er. Doch die meisten Ukrainer beklagten, dass ihre russischen Verwandten in der Russischen Föderation von der Staatspropaganda beeinflusst seien.
Die inzwischen im Exil lebende belarusische Philosophin Olga SHPARAGA berichtete, dass 2020 jeder Fünfte an den Protesten gegen das Regime von Aljaksandar Lukaschenka teilgenommen habe. Seither seien rund 750 NGOs geschlossen worden, tausende Oppositionelle wurden verhaftet oder verließen das Land. Umfragen in Belarus zeigten, dass es nur wenig Unterstützung für den russischen Krieg gebe. „Selbst Anhänger von Lukaschenka sind mehrheitlich gegen den Krieg.“ Mehr als 500 Freiwillige aus Belarus kämpften auf der ukrainischen Seite, sagt Shparaga. Die DGO wolle den Dialog mit Wissenschaftler*innen aus der Ukraine, Belarus und Russland weiterführen, versicherte Freitag in ihrem Schlusswort am Ende der Konferenz.